„Unformatierter ASCII-Text sieht ziemlich gut aus" - Die Geburt der Netzkunst aus dem Geiste des Unfalls

Inke Arns, Berlin [für: Kunstforum International, September 2000, hg. v. Thomas Wulffen]
 

„Die erste Seite ist zum Beispiel unformatierter ASCII-Code. Wir haben durch Zufall herausgefunden, dass das recht gut aussieht. Aber wir bekommen immer noch Beschwerden deswegen."
Dirk Paesmans von JODI, in: Tilman Baumgärtel, [net.art], Nürnberg 1999, S. 111

„In Netscape 2.0 you could have this background that would change all the time, background 1, 2, 3 etc. You could make great movies with that. You could let it run ten times in a row. They took it out in Netscape 3.0."
Dirk Paesmans von JODI, Interview by Josephine Bosma, zkp4 1997


Die Bezeichnung „Dada" fand sich 1916 durch blindes Aufschlagen eines deutsch-französischen Wörterbuches, als Ball und Huelsenbeck einen Künstlernamen für Madame LeRoy, Sängerin im Cabaret Voltaire, suchten. Dada war ein französisches Wort für Steckenpferd. So zumindest lautet die Huelsenbeck’sche Version des Gründungsmythos von Dada. Gleich einem digitalen Wiedergänger war die Entstehung von Netzkunst annähernd 80 Jahre später mit einem ähnlich erleuchtenden Ereignis verbunden. Während der hitzigen Diskussionen über den Begriff "Netzkunst" Anfang 1997 schickte der Moskauer Medienkünstler Alexej Shulgin seine Version der Entstehungsgeschichte des Begriffs ‘net.art’ über die Nettime Mailingliste (1). Es handelte sich, so Shulgin, bei dem Begriff ‘net.art’ eigentlich um ein Zufallsprodukt, ein ready made, dem man „keinesfalls größere Bedeutung zumessen" sollte. Laut Shulgin erhielt Vuk Cosic, Netzkünstler aus Ljubljana, im Dezember 1995 eine e-mail, die über einen anonymen Remailer (2) geschickt worden war. Aufgrund von Kompatibilitätsproblemen war der geöffnete Text jedoch nur unlesbares ASCII (3)-Wirrwarr. Das einzige Fragment, das annähernd Sinn machte, sah so aus: "[...] J8~g#|\;Net. Art{-^s1 [...]". Nach ein paar Monaten schickte Cosic die mysteriöse Nachricht an Igor Markovic, Herausgeber von Arkzin, Zagreb, dem die Entschlüsselung schliesslich gelang. Es handelte es sich um ein Manifest, das traditionellen Kunstinstitutionen alle möglichen Vorwürfe machte und dagegen Künstlern im Internet Unabhängigkeit und Freiheit bescheinigte. Die korrekt konvertierte Textstelle, aus der das ‘net.art’-Bruchstück stammte, lautete: "All dies wird möglich erst mit dem Aufkommen des Netzes. Kunst als Begriff wird überflüssig...", usw. Leider, so Shulgin, existiert dieses Manifest nicht mehr, denn es ging im Sommer 1996 nach dem Absturz von Igors Festplatte zusammen mit anderen wertvollen Daten verloren. Eine verrückte Geschichte, ganz nach Alexej Shulgins Geschmack: "Ich mag diese seltsame Geschichte, weil sie perfekt die Tatsache illustriert, daß die Welt, in der wir leben, viel komplexer ist als alle Vorstellungen, die wir von ihr haben" (4). Die Geburt der Netzkunst aus dem Geiste des Unfalls.

Netzkunst entwickelte sich, als das Internet, bzw. dessen grafisches Interface World Wide Web (WWW) 1993/1994 anfing, sich stärker zu verbreiten. Netzkunst benutzt das Internet nicht nur als Medium, sondern vor allem als Ort und als Material. Unter die Kategorie Netzkunst fällt nicht, wenn Ölbilder digitalisiert und dann ins Internet gestellt werden. Das wäre dann „Kunst im Netz". Netzkunst jedoch ist ein genuines Produkt des Netzes, das sich der spezifischen Eigenschaften des Raumes Internet annimmt und diese Eigenschaften – konkret: alles, was das Internet bzw. das World Wide Web ausmacht – als künstlerisches Material verwendet. Dies können spezifische Internetdienste oder -protokolle sein [z.B. http, ping, e-mail, irc, etc.], das Verändern und Schreiben bestimmter Software [z.B. der „künstlerische" Browser Webstalker], die Verwendung bestimmter Skripts oder der Einsatz von Suchmaschinen und Hypertextformaten. Es gibt sehr unterschiedliche Formen von Netzkunst: Projekte, deren Seiten das Hypertextformat voll ausschöpfen und zu einer Interaktion mit anderen Dokumenten im Kontext des WWW einladen. Diese Arbeiten sind „von Natur" aus so ephemär und instabil wie die Netzwerke selbst, deren genuiner Bestandteil sie sind (5). Es gibt aber auch solche Arbeiten, die sich bewusst jeder Interaktion verweigern und Erwartungen der User enttäuschen (z.B. durch sinnlose Links, automatisierte Meldungen über angebliche Schutzverletzungen, Soft- und Hardwarefehler, etc.). Ein Beispiel für ein solches, das Hypertextformat ad absurdum führendes Projekt ist die Arbeit des britischen Netzkünstlers „im Ruhestand" Heath Bunting, _readme (6) (1998), eine Textseite, genauer: ein Text von James Flint über Heath Bunting, dessen einzelne Wörter Links zu gleichnamigen inexistenten Firmen („dot coms") darstellen – www.If.com www.you.com www.had.com www.to.com www.classify.com www.him.com, www.you.com www.could.com www.do.com www.worse.com www.than.com www.call.com www.him.com www.an.com www.organiser.com www.of.com www.art.com www.events.com – eine Schreckensvision, die durch den Untertitel der Arbeit noch expliziert wird: Own, Be Owned Or Remain Invisible. Vorstellbar ist, dass Firmen inzwischen wirklich auf alle Wörter ein Copyright angemeldet haben. Bunting macht hier in eindrücklicher Weise klar, dass es sich bei dem fortschreitenden Kampf um Domainnamen (7) um nichts weiter als die Privatisierung des öffentlichen Raumes handelt.

Viele Netzkünstler verstehen sich als Netzaktivisten, so wie Heath Bunting. Die im folgenden als netzkünstlerisch beschriebenen Arten des Vorgehens haben im Realraum ihre Vorgänger und Parallelen. Es ist - etwas provokant gesagt - eigentlich das, was interventionistische Kunst im Stadtraum oder politische Kunststrategien der 1990er auch versucht haben: Sichtbarmachung der ‘Maschinerie’ und der Diskursformen, Störung oder sogar Zerstörung von Erwartungen und Strukturen, Enttäuschungen und Aufklärungen. Unterschiedlich ist die Inszenierung und die strategische Umsetzung. Ganz anders ist der positive Hype, die hochfliegenden Erwartungen, die ans Internet geknüpft, bzw. diesem zugeschrieben werden, z.B. hinsichtlich der demokratischen, der interaktiven oder gar der ökonomischen Möglichkeiten. Mit diesem Hype räumen die im folgenden beschriebenen Projekte gründlich auf.

In den letzten Jahren machte man sich an Klassifizierungen der Netzkünste. Vali Djordjevic fragte, ob es sich nur um Oberflächensurfer oder „Screendesigner", oder um „Textverarbeiter"-Künstler handele, die sich mit den strukturellen und technischen Grundlagen des Netzes auseinandersetzen (8). Zu letzterer Kategorie gehören Projekte, die das Netz selbst als Ausgangsmaterial für die künstlerische Arbeit benutzen. Das holländisch-belgische Künstlerpaar JODI z.B. dekonstruiert den HTML-Code (9), indem es anstelle der glatten Web-Oberfläche die ASCII-Zeichen des Quellcodes (10) verwendet, den Quellcode selbst also zum Bild werden lässt. I/O/D, eine britische Künstlergruppe, hat gleich einen eigenen Browser entwickelt. Der Webstalker (11) ermöglicht es den UserInnen, den Aufbau von Websites schematisch darzustellen. Also nicht die Web-Oberfläche zu zeigen, sondern die darunterliegenden „tragenden" Strukturen sichtbar werden zu lassen. Wichtig ist auch die Frage nach der „Ortsspezifizität" (site specificity [12]), eine Frage, die für die Ausstellbarkeit von Netzkunst von Bedeutung ist. Ist eine Arbeit rein im Netz angesiedelt, also spezifisch in diesen Kontext gesetzt - wie z.B. die Arbeiten von JODI -, oder handelt es sich um eine hybride Form, die aus dem Netzteil und einer Extension bzw. einem Interface in die „Realwelt" besteht? Blank&Jeron haben mit ihrem 1998 realisierten Scanner++ einen solchen Hybrid aus einem aus zwölf Flachbettscannern zusammengesetzten Scanner und einer Repräsentation dieses Scanners bzw. seiner Aktivitäten im Netz entwickelt (13). Neben der Ortsspezifizität wird die Ästhetik einer künstlerischen Arbeit generell auch nicht nur duch die konzeptuelle und inhaltliche Ausrichtung, sondern in grossen Teilen auch von der verwendeten Soft- und Hardware beeinflusst (14).

Begriffe wie Index, Rhizom, Hypertext sind genuine Begriffe und Techniken des Netzes. Das Internet ist mit seiner Netzwerk-Struktur ein nichtlinearer Raum per se. Und in diesem Raum sind Suchmaschinen nichtlineare Praktiken per se. Suchmaschinen suchen Bilder und Texte zu bestimmten Stichwörtern. Die documenta X Arbeit without_addresses (15) (1997) von Blank&Jeron sucht nach Eingabe des Benutzernamens mittels Suchmaschine im WWW nach entsprechenden Ergebissen. Die nächstbesten Seiten, die irgendwo den eingegebenen Namen tragen, werden kopiert und das Datenmaterial wird neu arrangiert. Die Veränderung besteht „aus der Anwendung einer programmierten Schablone, mit deren Hilfe die elektronischen Fundstücke in ihre Bestandteile zerrissen, in eine andere Hintergrundfarbe getaucht und in einer handschriftähnlichen Typographie neu zusammengesetzt" (16) werden. Text erscheint als Bild, mehr noch: Text ist Bild. In JODIs Arbeiten ist der Quelltext das Bild. Es gibt keinen Unterschied mehr zwischen Sourcecode und Bild (17).

In den meisten Netzkunst-Arbeiten geht es nicht darum, neue Medien und Technologien zu verwenden, sondern es geht um deren Entwendung. Diese Projekte nehmen eine kritisch-distanzierte Haltung gegenüber den medialen Maschinen ein, sie bedienen sich der Strategien der Unterwanderung, der Irritation, der Umfunktionierung. Sie widmen sich der Ästhetik des Fehlers, der medialen Störung und des technischen Versagens, der Dysfunktionalität und der Ästhetik des Maschinischen, d.h. der Sichtbarmachung von Prozessen, die meist hinter glatten Oberflächen tief im Inneren der Maschine ablaufen. Oder, wie es Andreas Broeckmann 1998 formulierte: es geht nicht um das „unauffällige und reibungslose Zusammengehen der materiellen und der virtuellen Welten, sondern vielmehr um den Unfall, die Reibung und den Bruch, die einer jeden technischen Realität inhärent sind." (18)

Ein genuines Proto-Netzkunstwerk ist in diesem Sinne TV Poetry (1993/94) des östereichischen Künstlers Gebhard Sengmüller. Für die Medienbiennale Leipzig 1994 hatte er in drei Städten (Rotterdam, Lüneburg, Wien) Fernseher mit Satellitenempfang aufgestellt, die alle 10 Sekunden das Programm wechselten. Parallel liess er auf einem Computer ein Texterkennungsprogramm laufen, das aus den empfangenen Fernsehbildern Textteile herausfilterte - z.B. Untertitel oder Nachrichtenheader. Abhängig von Größe und Klarheit der „Original"-texte in den Fernsehbildern erkannte das Programm den Text mehr oder weniger erfolgreich. Alle 10 Minuten sandten die drei Computerprogramme ihre Ergebnisse per Modem an die Zentrale in den Buntgarnwerken in Leipzig, wo sie als unendlicher Textstrom über einen Monitor ausgegeben wurden. Hier wurden recht gut lesbare Texte von Texten abgelöst, die vollkommen in maschinelles Kauderwelsch übergegangen waren und vice versa. TV Poetry war eine stille Meditation über die Ästhetik des Maschinischen und die Unwägbarkeiten der Kommunikation zwischen Maschinen.

JODI ist der Name eines in Spanien lebenden belgisch/niederländischen Künstlerduos, bestehend aus Dirk Paesmans und Joan Heemskerk. Kontaktiert man ihre Webseite <www.jodi.org>, ist die erste Reaktion meist „Oh Gott, mein Computer ist abgestürzt", oder „ich hab mir einen Virus eingefangen". JODI gehören mit ihrer Site, die computergenerierte gif/jpeg-Bilder, CGI-Programme, Javascripts, ASCII-Text und HTML-Quellcode enthält, zu den exponiertesten Vertretern der sogenannten „net.art" („net-dot-art"). JODI arbeitet mit den materiellen Voraussetzungen des Mediums Internet und widmet sich dem, was normalerweise als technische Dysfunktion unterdrückt wird: der medialen Störung in der Kommunikation zwischen Maschinen. Das Projekt 404 Not Found: unread, reply and unsent (19) nimmt den Begriff der Interaktivität aufs Korn: die Texteingabe des Users/In wird hier zu unleserlichem Datenmüll gemacht. Alle drei Seiten sind im unteren Bereich mit einem Eingabefeld versehen; der von dem User eingegebene Text wird von einem CGI-Skript (20) prozessiert und erscheint danach in der oberen Hälfte des Fensters. In „Unread" erscheint der Text ohne Vokale. Die e-mail wird zu unaussprechbaren Konsonantenreihen, die Artikulkation negiert. In „Reply" wird nur die Information gespeichert, die vom Benutzer nicht zu beeinflussen ist und die normalerweise ‘versteckt’ gesendet wird (21); im oberen Ausgabefeld erscheint allerdings die Adresse, also der physische Ort, von dem sich der User in das System einloggt. Details des Einloggvorgangs werden in einer Datenbank gespeichert, was Zweifel an der Anonymität im Netz aufkommen lässt. Das Speichern von Benutzerinformationen ist (nicht nur) im Internet jedoch Gang und gäbe; JODI unterschiedet sich von dieser Praxis nur dadurch, dass es hier öffentlich geschieht. In „Unsent" endlich finden wir die Vokale, die bei „Unread" herausgefiltert worden waren. Das Schlagwort von der Interaktivität wird dekonstruiert: JODI zensiert und verändert die Eingabe des Users, zeichnet Details auf und negiert den kommunikativen Impuls. Die fast ‘klagende’ Stimme phonetische Vokalreihung bleibt „unsent", also unversandt. (22)

Ein anderes Verhältnis zwischen Text und Bild erarbeitet das seit 1998 bestehende ASCII Art Ensemble (23) (Walter van der Cruijsen, Luka Frelih, Vuk Cosic). Erklärtes Ziel der Gruppe ist die Verwirklichung eines „netz-basierten bewegten ASCII". Hier ist es nicht, wie bei JODI, der Sourcecode, der zum Bild wird, sondern hier werden (bewegte) Bilder durch ASCII-Zeichen dargestelllt. Das Verfahren erinnert an frühe, grafiklose und 24-nadelige Stadien der Druckertechnologie, als Bilder nur durch im Computer vorhandene ASCII-Zeichen dargestellt werden konnten. Das ASCII Art Ensemble hat bereits ein Javascript und einen Java Player für bewegte ASCII-Bilder entwickelt. Nun wird noch an einem schnellen Konverter gearbeitet, der bewegtes ASCII in Echtzeit im Netz unterstützt. Hehres Endziel ist die Entwicklung eines RealPlayer G2 Plug-Ins (24), das besagtes neues Dateiformat unterstützt und für eine weite Verbreitung sorgen könnte. Bislang entwickelt worden sind u.a. die ASCII to Speach history of art for the blind (25), die in ASCII-Zeichen gewandelte Bilder aus der Kunstgeschichte Zeichen für Zeichen vorliest. Ein in seiner ganzen Sinnlosigkeit sehr schöner Vorgang. Auch existiert eine History of Moving Image, die in sieben Clips eine Übersicht über die Stilentwicklung und die Distributionsmedien des bewegten Bildes gibt, sowie Deep ASCII, eine ASCII-Version des Films Deep Throat, die auf einer Pong Arcade läuft. Hier sind nicht die pornografischen Bilder, sondern nur deren unentzifferbare ASCII-Versionen zu sehen.

Eine andere Form von Enttäuschung erwartet Suchende bei einem Netzprojekt, das ‘Antworten’ verspricht. www.antworten.de (1997) von Holger Friese und Max Kossatz begrüßt einen User z.B. mit der Nachricht „We are now serving 94. Sie haben Nummer: 99, bitte warten!!!". Dazu setzt eine Endlosschleife mit Wartemusik ein. Nach 100 Sekunden erscheint die Frage "Möchten Sie etwas schreiben oder etwas lesen während Sie warten?" Klickt man auf ‘lesen’, werden detaillierte Zugriffsstatistiken für www.antworten.de seit dem 31.5.97 aufgerufen. Die Option ‘schreiben’ öffnet ein Fenster, das zum Verfassen einer e-mail an fragen@antworten.de einlädt. Nach drei Minuten wird die nächsthöhere Wartenummer aufgerufen. Selbst wenn man die Zeit überschlägt, zu der man ungefähr drankommt, wird man immer mit der Antwort "Sie sind leider zu spät, Ihre alte Nummer war 99, Ihre neue Nummer ist 106" abgespeist. Beim Zugriff auf antworten.de wird mittels eines Perl-CGI-Skripts (26) die aktuelle Nummer ausgelesen und die entsprechende Grafik für die Ziffern angezeigt, die Nummernzuweisung (aktuelle Nummer + 7) erfolgt durch ein Cookie (27), das auf dem Rechner des Users abgelegt wird. Das vielversprechende Angebot entpuppt sich als automatisiertes Maschinenskript – das Hoffen auf Antworten ist vergeblich. Und ständig dudelt die Musik.

Das Spiel mit virtuellen Identitäten – und die Dekonstruktion derselben – trieb Cornelia Sollfrank 1997 auf die Spitze: In diesem Jahr schrieb die Hamburger Kunsthalle einen Wettbewerb für Netzkunst aus. Die Künstlerin konterte das Bestreben nach ‘Extension’ ins Netz trocken mit einer Female Extension: sie kreierte 288 internationale Netzkünstlerinnen, denen sie vollständige Post- und e-mail-Adressen zuordnete. Für 127 dieser Künstlerinnen generierte Sollfrank individuelle Netzkunst-Projekte mit Hilfe eines Computerprogramms, das im WWW beliebiges HTML-Material sammelte und automatisch rekombinierte. Während sich die Kunsthalle über die hohe Beteiligung von Künstlerinnen freute – zwei Drittel der BewerberInnen waren Frauen – gingen die drei Geldpreise an männliche Künstler. Sollfrank deckte die unentdeckt gebliebene Intervention in einer Presseerklärung auf. 1999 entwickelte die Künstlerin eine Fortführung ihrer Female Extension: den Netart Generator. Sollfrank hat vier Programmierer beauftragt, einen Netzkunst-Generator zu bauen. Sie haben für denselben Auftrag ganz verschiedene Programmlösungen vorgelegt, die nun über eine ebenfalls automatisch generierte Einstiegsseite zugänglich sind. Die Generatoren unterscheiden sich danach, ob sie eher text- oder bildorientierter suchen. Unterschiedlich ist auch die Arbeitsgeschwindigkeit. Ausserdem sprechen sie verschiedene Suchmaschinen an (28). Sollfrank lässt arbeiten, denn, so das Motto der Einstiegsseite: „A clever artist makes the machine do the work!"

1996/97 liess sich der gegenwärtige Hype um das Internet und die ‘dot coms’ noch nicht in dieser Form absehen. Voraussehbar war er schon. KünstlerInnen haben mit ihren Netzprojekten schon früh Strategien der Irritation gegen diesen Hype entwickelt. Gegen die glatten Oberflächen wird der rohe Quellcode und die mediale Störung gesetzt, gegen die in den glatten Oberflächen mitschwingenden technoutopische Hoffnungen fährt man eine Strategie der Enttäuschung. Die im besten Fall eine Ent-Täuschung über die eigenen Hoffnungen in die utopischen Potentiale der Technologie ist.

Inke Arns, Berlin, April 2000
 
 

1  <www.nettime.org>. Alexej Shulgin, ‘Net.art - the origin’, in: Nettime, 18 March 1997, auch veröffentlicht in: P. Schultz / D. McCarty / V. Cosic / G. Lovink (Hg.), ZK Proceedings 4: Beauty and the East, Ljubljana: Digital Media Lab, 1997, S. 28 <http://www.ljudmila.org/nettime/zkp4>
2  Anonyme (Re-)Mailer ermöglichen den anonymen Versand von e-mails. Einer der bekannteren Anonymen (Re-)Mailern wurde 1992 von Johan Helsinguis in Finnland eingerichtet <anon.penet.fi>, musste jedoch 1996 auf Drängen der Scientology Sekte schliessen. Vgl. Michael H. Spencer, ‘Anonymous Internet Communication and the First Amendment: A Crack in the Dam of National Sovereignty’, in: Virginia Journal of Law and Technology, Spring 1998, 3 Va. J.L. & Tech. 1 <http://www.student.Virginia.EDU/~vjolt/text_only/vol3/vol3_art1.html>
3  ASCII = American Standard Code for Information Interchange
4  Die Diskussion über den Begriff net.art befindet sich im Nettime Mail Archiv <www.nettime.org>. Eine Zusammenstellung und -fassung der unterschiedlichen Argumente ist publiziert in: ZK Proceedings 4: Beauty and the East, Ljubljana: Digital Media Lab, 1997 <http://www.ljudmila.org/nettime/zkp4>
5  Vgl. Andreas Broeckmann, ‘Net.Art, Machines, and Parasites’, in: Nettime, 8. März 1997 <http://www.nettime.org/nettime.w3archive/199703/msg00038.html>
6  Heath Bunting, _readme, 1998 <http://www.irational.org/heath/_readme.html>
7  Ein Domainname ist z.B. „mikro" in http://www.mikro.org. Letzter Teil einer URL ist immer eine Top Level Domain. Diese setzen sich aus Generic Top Level Domains (GTLDs) und Country Code Top Level Domains (CCTLDs) zusammen. GTLDs sind heute: .org, .edu, .com, .gov, .mil, .int, .net. Daneben gibt es ca. dreihundert zweilettrige CCTLDs wie z.B. .de, .ru, .uk.
8  Vgl. Valentina Djordjevic, ‘Textverarbeiter und Screendesigner: Internet für Netzkünstler leichtgemacht’, in: netz.kunst, Jahrbuch ‘98-’99, hg. v. Institut für moderne Kunst Nürnberg 1999, S. 18-21
9  HTML = Hypertext Markup Language; Programmiersprache zum Erstellen von Webseiten.
10  Quellcode, oder Sourcecode: die in einer höheren Programmiersprache geschriebene und daher menschenlesbare Version eines Programms; bevor er von einem Computer ausgeführt werden kann, muß er in Objektcode kompiliert oder interpretiert werden.
11  I/O/D, Webstalker, 1997 <www.backspace.org/iod>
12  Inke Arns, 'A Particular Site-specificity, or: Do I Have a Good Reason to Be Here?', Lecture given at the conference „Netz, Kunst und Publikum - Vermittlungsstrategien der Netzkunst", Künstlerhaus Bethanien, October 1998, in: BE Magazin, Berlin, Spring/Summer 2000; sowie <http://www.v2.nl/~arns/Texts/Media/net-e.html>
13  Blank&Jeron, Scanner++, 1998 <http://sero.org/scanner>. Scanner++ wurde für die Austellung body of the message im Neuen Berliner Kunstverein 1998 entwickelt <www.nbk.org/Ausst/Body/body.html>.
14  Vgl. Hans Dieter Huber, ‘Materialität und Immaterialität der Netzkunst’, in: kritische berichte. Zeitschrift für Kunst- und Kulturwissenschaften, 1/1998, S. 39-53
15  Blank&Jeron, without_addresses (1997) <http://sero.org/without_addresses/>
16  Gerrit Gohlke, ‘Greifen Sie zu!’, in: Ortsbegehung 4 - body of the message, [Sandra Becker, Joachim Blank & Karl Heinz Jeron, Daniel Pflumm], Kat. Neuer Berliner Kunstverein, Berlin, 4. Juli - 16. August 1998, [o.S.] sowie <http://www.nbk.org/Ausst/Body/gohlkeD.html>
17  Vgl. Gottfried Kerscher, ‘Bild - Icon - Eyecatcher. Zur Bildstrategie im Internet’, in: netz.kunst, Jahrbuch ‘98-’99, Nürnberg 1998, S. 110-117
18  Andreas Broeckmann, ‘DEAF98 - The Unreliability of Accidents’ (Konzept), Rotterdam, 17 - 29 November 1998
19  "404 Not Found" ist die Meldung, die ein Server an einen Browser schickt, wenn die angeforderte Seite nicht vorhanden ist.
20  CGI Programme (= Common Gateway Interface Programme) bewirken, dass Daten, die von einem User via e-mail an den Server gesendet werden ggf. als Text auf der Website erscheinen.
21  „Versteckte" Informationen sind u.a.: eine Serie von IP-Nummern, exakte Datums- und Zeitangaben, Informationen zu benutzter Software und Protokollen. Diese Informationen begleiten jedes Datenpaket, das durch das Netz reist.
22  Vgl. Saul Albert, ‘„Interactivity", Image, Text, and Context within jodi.org’, in: Nettime, 4. April 1998 <http://www.nettime.org/nettime.w3archive/199804/msg00015.html>
23  ASCII Art Ensemble <http://desk.org/a/a/e/> oder <http://www.vukcosic.org/ascii/aae.html>
24  Der G2 Real Player ist eine weitverbreitete, im Internet kostenlos herunterladbare Software mit der man Audio- oder Videodateien abspielen kann. Ein Plug-In für den G2 Real Player ist eine Software, die bestimmte Dateiformate für den G2 Real Player les- und abspielbar macht.
25  ASCII to Speach history of art for the blind <http://www.ljudmila.org/~vuk/ascii/blind/>
26  CGI-Skripte oder -Programme (= Common Gateway Interface Programme) sind oft in der Programmiersprache Perl geschrieben und bewirken, dass Daten, die von einem User via e-mail an den Server gesendet werden, ggf. als Text auf der Website erscheinen.
27  Cookie = dt. Keks; eine Zeichenfolge, die von einem Server auf dem Computer des Users abgelegt wird und dessen Identifikation gewährleistet.
28  Vgl. Ute Vorkoeper, ‘Programmierte Verführung’, in: Telepolis, 2.12.1999 <http://www.heise.de/tp/deutsch/inhalt/sa/3466/1.html>