"Unformatierter ASCII-Text sieht ziemlich gut aus" - Die Geburt der Netzkunst aus dem Geiste des Unfalls

Inke Arns, Berlin

[publiziert in: Kunstforum International. 'Der gerissene Faden. Nichtlineare Techniken in der Kunst', hg. v. Thomas Wulffen, Bd. 155, Juni/Juli 2001, S. 236-241]


"Die erste Seite ist zum Beispiel unformatierter ASCII-Code. Wir haben durch Zufall herausgefunden, daß das recht gut aussieht. Aber wir bekommen immer noch Beschwerden deswegen."
Dirk Paesmans von Jodi, in: Tilman Baumgärtel, [net.art], Nürnberg 1999, S. 111
 

"In Netscape 2.0 you could have this background that would change all the time, background 1, 2, 3 etc. You could make great movies with that. You could let it run ten times in a row. They took it out in Netscape 3.0."
Dirk Paesmans von Jodi, Interview by Josephine Bosma, zkp4 1997


 


Die Bezeichnung "Dada" fand sich 1916 durch blindes Aufschlagen eines deutsch-französischen Wörterbuches, als Ball und Huelsenbeck einen Künstlernamen für Madame LeRoy, Sängerin im Cabaret Voltaire, suchten. Dada war ein französisches Wort für Steckenpferd. So zumindest lautet die Huelsenbeck'sche Version des Gründungsmythos von Dada. Gleich einem digitalen Wiedergänger war die Entstehung von Netzkunst annähernd 80 Jahre später mit einem ähnlich erleuchtenden Ereignis verbunden. So will es zumindest der Mythos, oder eine Version des Mythos. Während der hitzigen Diskussionen über den Begriff "Netzkunst" Anfang 1997 schickte der Moskauer Medienkünstler Alexej Shulgin seine Version der Entstehungsgeschichte des Begriffs 'net.art' über die Nettime Mailingliste(1). Es handelte sich, so Shulgin, bei dem Begriff 'net.art' eigentlich um ein Zufallsprodukt, ein ready made, dem man "keinesfalls größere Bedeutung zumessen" sollte. Laut Shulgin erhielt Vuk Cosic, Netzkünstler aus Ljubljana, im Dezember 1995 eine e-mail, die über einen anonymen Remailer(2) geschickt worden war. Aufgrund von Kompatibilitätsproblemen war der geöffnete Text jedoch nur unlesbares ASCII(3)-Wirrwarr. Das einzige Fragment, das annähernd Sinn machte, sah so aus: "[...] J8~g#|\;Net. Art{-^s1 [...]". Nach ein paar Monaten schickte Cosic die mysteriöse Nachricht an Igor Markovic, Herausgeber der Zeitschrift Arkzin, Zagreb, dem die Entschlüsselung schließlich gelang. Es handelte es sich um ein Manifest, das traditionellen Kunstinstitutionen alle möglichen Vorwürfe machte und dagegen Künstlern im Internet Unabhängigkeit und Freiheit bescheinigte. Die korrekt konvertierte Textstelle, aus der das 'net.art'-Bruchstück stammte, lautete: "All dies wird möglich erst mit dem Aufkommen des Netzes. Kunst als Begriff wird überflüssig...", usw. Leider, so Shulgin, existiert dieses Manifest nicht mehr, denn es ging im Sommer 1996 nach dem Absturz von Igors Festplatte zusammen mit anderen wertvollen Daten verloren. Eine verrückte Geschichte, ganz nach Alexej Shulgins Geschmack: "Ich mag diese seltsame Geschichte, weil sie perfekt die Tatsache illustriert, daß die Welt, in der wir leben, viel komplexer ist als alle Vorstellungen, die wir von ihr haben"(4). Die Geburt der Netzkunst aus dem Geiste des Unfalls. So viel zum Mythos.

KünstlerInnen arbeiten seit den 1960er Jahren mit Computernetzwerken und neuen Kommunikationstechnologien. "Netzkunst" im engeren Sinne entstand jedoch erst mit der zunehmenden Verbreitung des Internet bzw. dessen grafischen Interfaces World Wide Web (WWW) Anfang der 1990er Jahre(5). Netzkunst war, besonders in ihrer Frühphase bis ca. 1997, ein genuines Produkt translokaler Vernetzung: KünstlerInnen aus Ost- und Westeuropa trugen zu gleichen Teilen zur Entwicklung dieser neuen Kunstform bei.

Netzkunst benutzt das Internet nicht nur als Medium, sondern vor allem als Ort und als Material. Unter die Kategorie Netzkunst fällt nicht, wenn Ölbilder digitalisiert und dann ins Internet gestellt werden. Das wäre dann "Kunst im Netz". Netzkunst jedoch ist ein genuines Produkt des Netzes, das sich der spezifischen Eigenschaften des Raumes Internet annimmt und diese Eigenschaften ­ konkret: alles, was das Internet bzw. das World Wide Web ausmacht ­ als künstlerisches Material verwendet. Dies können spezifische Internetdienste oder -protokolle sein (z.B. http, ping, e-mail, irc), das Verändern und Schreiben bestimmter (künstlerischer) Software, die Verwendung bestimmter Skripts oder der Einsatz von Suchmaschinen und Hypertextformaten. Es gibt sehr unterschiedliche Formen von Netzkunst: Projekte, deren Seiten das Hypertextformat voll ausschöpfen und zu einer Interaktion mit anderen Dokumenten im Kontext des WWW einladen. Diese Arbeiten sind "von Natur" aus so ephemär und instabil wie die Netzwerke selbst, deren genuiner Bestandteil sie sind(6). Es gibt aber auch solche Arbeiten, die sich bewußt jeder Interaktion verweigern und Erwartungen der Nutzer enttäuschen.

Ein Beispiel für ein das Hypertextformat ausschöpfendes Netzkunstprojekt ist bzw. war das 'intergalaktische web loop' Refresh, ein im September 1996 in Rotterdam, Ljubljana und Moskau gemeinsam von Andreas Broeckmann, Vuk Cosic und Alexej Shulgin begonnenes Netzkunstprojekt. Die Initiatoren verschickten über verschiedene Mailinglisten einen Aufruf zum Bau von Webseiten, die die "Refresh"-Funktion des Webbrowsers "kreativ" einsetzen sollten, um damit bis zu 50 auf unterschiedlichen Servern in verschiedenen Ländern liegende Webseiten zu verlinken. Alle 10 Sekunden erschien so automatisch die nächste Webseite der 'intergalaktischen Achterbahn'. Dieses Projekt und seine Entstehung zeugen vom Netzwerkcharakter und von der Vernetztheit des Kontextes, in welchem es entstanden ist. Nur ein Bruchstück des ursprünglichen Refresh-Ringes ist heute noch online.

Wie bereits erwähnt gibt es aber auch solche Arbeiten, die sich bewußt jeder Interaktion verweigern. Ein Beispiel für ein solches, das Hypertextformat ad absurdum führendes und die Erwartungen der Benutzer enttäuschendes Projekt ist die Arbeit des britischen Netzkünstlers "im Ruhestand" Heath Bunting, _readme(7) (1998), eine Textseite, genauer: ein Text von James Flint über Heath Bunting, dessen einzelne Wörter Hyperlinks zu Internetadressen gleichnamiger Firmen ("dot coms") darstellen ­ eine Schreckensvision, die durch den Untertitel der Arbeit noch expliziert wird: Own, Be Owned Or Remain Invisible. Vorstellbar ist, daß Firmen inzwischen auf alle noch so absurden Domains ein Copyright angemeldet haben. Bunting macht hier in eindrücklicher Weise klar, daß es sich bei dem fortschreitenden Kampf um Domainnamen(8) um nichts weiter als die Privatisierung des öffentlichen Raumes handelt. Während 1998 noch viele Links ins Nichts führten, sind Anfang 2001 fast alle Adressen belegt.

Viele Netzkünstler verstehen sich als Netzaktivisten, so wie Heath Bunting. Die im folgenden als netzkünstlerisch beschriebenen Arten des Vorgehens haben im Realraum ihre Vorgänger und Parallelen. Es ist - etwas provokant gesagt - eigentlich das, was interventionistische Kunst im Stadtraum oder politische Kunststrategien der 1990er auch versucht haben: Sichtbarmachung der 'Maschinerie' und der Diskursformen, Störung oder sogar Zerstörung von Erwartungen und Strukturen, Enttäuschungen und Aufklärungen. Unterschiedlich ist die Inszenierung und die strategische Umsetzung. Ganz anders ist der positive Hype, die hochfliegenden Erwartungen, die ans Internet geknüpft, bzw. diesem um 1996/97 zugeschrieben werden, z.B. hinsichtlich der demokratischen, der interaktiven oder gar der ökonomischen Möglichkeiten. Mit diesem Hype räumen die im folgenden beschriebenen Projekte gründlich auf.

In den letzten Jahren machte man sich an Klassifizierungen der Netzkünste. Vali Djordjevic fragte, ob es sich nur um Oberflächensurfer oder "Screendesigner", oder um "Textverarbeiter"-Künstler handele, die sich mit den strukturellen und technischen Grundlagen des Netzes auseinandersetzen(9). Zu letzterer Kategorie gehören Projekte, die das Netz selbst als Ausgangsmaterial für die künstlerische Arbeit benutzen. Das holländisch-belgische Künstlerpaar Jodi z.B. dekonstruiert den HTML-Code(10), indem es anstelle der glatten Web-Oberfläche die ASCII-Zeichen des Quellcodes(11) verwendet, den Quellcode selbst also zum Bild werden läßt. I/O/D, eine britische Künstlergruppe, hat gleich einen eigenen Browser entwickelt. Der Webstalker(12) ermöglicht es den BenutzerInnen, den Aufbau von Websites schematisch darzustellen. Also nicht die Web-Oberfläche zu zeigen, sondern die darunterliegenden "tragenden" Strukturen sichtbar werden zu lassen. Wichtig ist auch die Frage nach der "Ortsspezifizität" (site specificity(13)), eine Frage, die für die Ausstellbarkeit von Netzkunst von Bedeutung ist. Ist eine Arbeit rein im Netz angesiedelt, also spezifisch in diesen Kontext gesetzt - wie z.B. die Arbeiten von Jodi -, oder handelt es sich um eine hybride Form, die aus dem Netzteil und einer Extension bzw. einem Interface in die "Realwelt" besteht? Blank&Jeron haben mit ihrem 1998 realisierten Scanner++ einen solchen Hybrid aus einem aus zwölf Flachbettscannern zusammengesetzten Scanner und einer Repräsentation dieses Scanners bzw. seiner Aktivitäten im Netz entwickelt(14). Neben der Ortsspezifizität wird die Ästhetik einer künstlerischen Arbeit generell auch nicht nur duch die konzeptuelle und inhaltliche Ausrichtung, sondern in großen Teilen auch von der verwendeten Soft- und Hardware beeinflußt(15).

Begriffe wie Index, Rhizom, Hypertext sind genuine Begriffe und Techniken des Netzes. Das Internet ist mit seiner verteilten Netzwerk-Struktur ein nichtlinearer Raum per se. Und in diesem Raum sind Suchmaschinen nichtlineare Praktiken per se. Suchmaschinen suchen Bilder und Texte zu bestimmten Stichwörtern. Die documenta X Arbeit without_addresses(16) (1997) von Blank&Jeron sucht nach Eingabe des Benutzernamens mittels Suchmaschine im WWW nach entsprechenden Ergebnissen. Die nächstbesten Seiten, die irgendwo den eingegebenen Namen tragen, werden kopiert und das Datenmaterial wird neu arrangiert. Die Veränderung besteht "aus der Anwendung einer programmierten Schablone, mit deren Hilfe die elektronischen Fundstücke in ihre Bestandteile zerrissen, in eine andere Hintergrundfarbe getaucht und in einer handschriftähnlichen Typographie neu zusammengesetzt"(17) werden.

In den meisten frühen Netzkunst-Arbeiten geht es nicht darum, neue Medien und Technologien zu verwenden, sondern es geht um deren Entwendung. Diese Projekte nehmen eine kritisch-distanzierte Haltung gegenüber den medialen Maschinen ein, sie bedienen sich der Strategien der Unterwanderung, der Irritation, der Umfunktionierung. Sie widmen sich der Ästhetik des Fehlers, der medialen Störung und des technischen Versagens, der Dysfunktionalität und der Ästhetik des Maschinischen, d.h. der Sichtbarmachung von Prozessen, die meist hinter glatten Oberflächen tief im Inneren der Maschine ablaufen. Oder, wie es Andreas Broeckmann 1998 formulierte: es geht nicht um das "unauffällige und reibungslose Zusammengehen der materiellen und der virtuellen Welten, sondern vielmehr um den Unfall, die Reibung und den Bruch, die einer jeden technischen Realität inhärent sind."(18)

Ein genuines Proto-Netzkunstwerk ist in diesem Sinne TV Poetry (1993/94) des östereichischen Künstlers Gebhard Sengmüller. Für die Medienbiennale Leipzig 1994 hatte er in drei Städten (Rotterdam, Lüneburg, Wien) Fernseher mit Satellitenempfang aufgestellt, die alle 10 Sekunden das Programm wechselten. Parallel ließ er auf einem Computer ein Texterkennungsprogramm laufen, das aus den empfangenen Fernsehbildern Textteile herausfilterte - z.B. Untertitel oder Nachrichtenheader. Abhängig von Größe und Klarheit der "Original"-texte in den Fernsehbildern erkannte das Programm den Text mehr oder weniger erfolgreich. Alle 10 Minuten sandten die drei Computerprogramme ihre Ergebnisse per Modem an die Zentrale in den Buntgarnwerken in Leipzig, wo sie als unendlicher Textstrom über einen Monitor ausgegeben wurden. Hier wurden recht gut lesbare Texte von Texten abgelöst, die vollkommen in maschinelles Kauderwelsch übergegangen waren und vice versa. TV Poetry war eine stille Meditation über die Ästhetik des Maschinischen und die Unwägbarkeiten der Kommunikation zwischen Maschinen.

Das holländisch-belgische Künstlerpaar Jodi dekonstruiert den HTML-Code(19), indem es anstelle der glatten Web-Oberfläche die ASCII-Zeichen des Quellcodes(20) verwendet, den Quellcode selbst also zum Bild werden läßt(21). Jodi gehören mit ihrer Website, die n beim ersten Besuch den Eindruck vermittelt, sie hätten sich einen Virus eingefangen, zu den bekanntestesten Vertretern der sogenannten "net.art". Ihre elegant programmierten Arbeiten enthalten computergenerierte gif/jpeg-Bilder, CGI-Programme, Javascripts, ASCII-Text und HTML-Quellcode. Jodi arbeitet - und das ist typisch für frühe Formen der Netzkunst um 1996/97 - mit den materiellen Voraussetzungen des Mediums Internet und widmet sich dem, was normalerweise als technische Dysfunktion unterdrückt wird: der medialen Störung in der Kommunikation zwischen Maschinen. Interaktion wird hier radikal dekonstruiert.

Erklärtes Ziel des 1998 gegründeten ASCII Art Ensembles(22) (eine Gruppe mit Mitgliedern in Amsterdam, Ljubljana und Berlin) ist die 'Rückübertragung' bewegter Filmbilder in "netz- basiertes bewegtes ASCII". Hier ist es nicht, wie bei Jodi, der Sourcecode, der zum Bild wird, sondern hier werden (bewegte) Bilder durch ASCII-Zeichen dargestelllt. Das Verfahren erinnert an frühe, grafiklose und 24-nadelige Stadien der Druckertechnologie, als Bilder nur durch im Computer vorhandene ASCII-Zeichen dargestellt werden konnten und dementsprechend unentzifferbar waren. Das ASCII Art Ensemble hat bereits ein Javascript und einen Java Player für bewegte ASCII-Bilder entwickelt. Nun wird noch an einem schnellen Konverter gearbeitet, der bewegtes ASCII in Echtzeit im Netz unterstützt. Hehres Endziel ist die Entwicklung eines RealPlayer G2 Plug-Ins(23), das besagtes neues Dateiformat unterstützt und für eine weite Verbreitung sorgen könnte. Bislang entwickelt worden sind u.a. die ASCII to Speach history of art for the blind(24), die in ASCII-Zeichen gewandelte Bilder aus der Kunstgeschichte Zeichen für Zeichen vorliest. Ein in seiner ganzen Sinnlosigkeit sehr schöner Vorgang. Auch existiert bereits eine History of Moving Image, die in sieben Clips eine Übersicht über die Stilent- wicklung und die Distributionsmedien des bewegten Bildes gibt, sowie Deep ASCII(25), eine ASCII-Version des Films Deep Throat, die auf einer Pong Arcade läuft. Hier sind nicht die pornografischen Bilder, sondern nur deren unentzifferbare ASCII-Versionen zu sehen.

Eine andere Form von Enttäuschung erwartet Suchende bei einem Netzprojekt, das, ganz simpel, 'Antworten' verspricht. www.antworten.de (1997) von Holger Friese und Max Kossatz begrüßt einen Benutzer z.B. mit der Nachricht "We are now serving 94. Sie haben Nummer: 99, bitte warten!!!". Dazu setzt eine Endlosschleife mit Wartemusik ein, ähnlich eines firmeneigenen Telefonmusikwarteloops. Nach 100 Sekunden erscheint die Frage "Möchten Sie etwas schreiben oder etwas lesen während Sie warten?" Klickt man auf 'lesen', werden detaillierte Zugriffsstatistiken für www.antworten.de seit dem 31.5.97 aufgerufen. Diese in ihrer peniblen Ausführlichkeit sinnlosen Statistiken erscheinen in Form farbiger Balken- und Torten- diagramme; die Tabellen weisen "Hits", "Files", "Sites", "KiloBytes sent" für die jeweiligen Monate aus. Über Links kann man auch die "Full statistics" für die Jahre 1999, 1998 und 1997 einsehen. Die Option 'schreiben' öffnet ein Fenster, das zum Verfassen einer e-mail an fragen@antworten.de einlädt. Nach drei Minuten wird die nächsthöhere Wartenummer aufgerufen. Selbst wenn man die Zeit überschlägt, zu der man ungefähr drankommt, wird man immer mit der Antwort "Sie sind leider zu spät, Ihre alte Nummer war 99, Ihre neue Nummer ist 106" abgespeist. Beim Zugriff auf antworten.de wird mittels eines Perl-CGI-Skripts(26) die aktuelle Nummer ausgelesen und die entsprechende Grafik für die Ziffern angezeigt, die Nummernzuweisung (aktuelle Nummer + 7) erfolgt durch ein Cookie(27), das auf dem Rechner des Benutzers abgelegt wird. Das vielversprechende Angebot entpuppt sich als automatisiertes Maschinenskript ­ das Hoffen auf Antworten ist vergeblich.

Das Spiel mit virtuellen Identitäten ­ und die Dekonstruktion derselben ­ trieb Cornelia Sollfrank 1997 auf die Spitze: In diesem Jahr schrieb die Hamburger Kunsthalle einen Wettbewerb für Netzkunst aus. Die Künstlerin konterte das Bestreben nach 'Extension' ins Netz trocken mit einer Female Extension: sie kreierte 288 internationale Netzkünstlerinnen, denen sie vollständige Post- und e-mail-Adressen zuordnete. Für 127 dieser Künstlerinnen generierte Sollfrank individuelle Netzkunst-Projekte mit Hilfe eines Computerprogramms, das im WWW beliebiges HTML-Material sammelte und automatisch rekombinierte. Während sich die Kunsthalle über die hohe Beteiligung von Künstlerinnen freute ­ zwei Drittel der BewerberInnen waren Frauen ­ gingen die drei Geldpreise an männliche Künstler. Sollfrank deckte die unentdeckt gebliebene Intervention in einer Presseerklärung auf. Unter dem Motto "A smart artist makes the machine do the work!" bietet der 1999 von Sollfrank konsequent weiterentwickelte Netart Generator(28) drei von unterschiedlichen ProgrammiererInnen geschriebene und online verfügbare Netzkunst-Generatoren an, von denen einige eher text-, andere eher bildorientiert suchen. Zudem sprechen sie verschiedene Suchmaschinen an und arbeiten mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten(29).

Der Moskauer Medienkünstler Alexej Shulgin, auch ein früher Vertreter der Netzkunst, baute 1997 aus HTML-Form-Elementen, die üblicherweise zum Bau von Web-Formularen dienen (Knöpfe, Checkboxen, Textbereiche und Pull-Down-Menues), abstrakte ­ künstlerische ­ Web-Seiten. Unter dem Namen Form Art(30) erklärte er das Ganze gleich zu einer neuen Kunstrichtung. Im Juli 1997 schrieb Shulgin im Netz ein offenen Wettbewerb aus - die Form Art Competition -, bei dem Netzkünstler 1000 Dollar für Arbeiten in diesem neuen Kunstgenre gewinnen konnten. In der Ausschreibung hieß es mit beißender Ironie: "This new art form is based on the Internet technology and gives to an artist new possibilities for self-expression." Was natürlich durch diese sehr beschränkte Auswahl von Formen konterkariert wurde. Die Gewinner wurden Anfang September 1997 während der Ars Electronica in Linz ausgezeichnet.

Ebenso, wie Jodi den Begriff der Interaktivität dekonstruiert, nimmt auch Alexej Shulgin in seinem Manifest "Art, Power and Communication" von 1996 diesem Begriff gegenüber eine sehr kritische Haltung ein. Überhaupt haben verschiedene Künstler aus Osteuropa wiederholt auf die Bedeutung des immer schon gebrochenen Verhältnisses zu 'den Medien' hingewiesen. Lev Manovich unterstreicht - angeregt durch Alexej Shulgins polemisches Manifest von 1996 - die Bedeutung der unterschiedlichen Erfahrungen:

"The experiences of East and West structure how new media is seen in both places."(31) ­ "For a Western artist, [...] interactivity is a perfect vehicle both to represent and promulgate ideals of democracy and equality; for a post-communist, it is yet another form of manipulation, in which artists use advanced technology to impose their totalitarian wills on the people. Further, Western media artists usually take technology absolutely seriously, despairing when it does not work; post-communist artists, on the other hand, recognize that the nature of technology is that it does not work, that it will necessarily break down. Having grown up in a society where truth and lie, reality and propaganda always go hand in hand, the post-communist artist is ready to accept the basic truisms of life in an information society (spelled out in Claude Shannon's mathematical theory of communication): that every signal always contains some noise; that signal and noise are qualitatively the same; and that what is noise in one situation can be signal in another."(32)

In diesem Sinne machte der Moskauer Konzeptkünstler und Dichter Dmitrij Prigov während des International Symposium on Electronic Art (ISEA) 1994 in Helsinki eine Performance mit dem Titel Orpheus und Eurydike, in der er Übersetzungsprogramme für Geschäftsleute einsetzte, um ein Gedicht von Alexander Puschkin aus dem 19. Jahrhundert aus dem Russischen ins Englische, dann ins Deutsche und von dort zurück ins Russische zu übersetzen. Für Prigov stellte das Endprodukt eben nicht eine fürchterlich schlechte Übersetzung dar, auch kein schlechtes Gedicht, sondern ein neues Kunstwerk, ein Text auf der "untersten Ebene künstlerischer Existenz" (Sasse), der seine Originalität den auf dem niedrigsten Level künstlicher Intelligenz ausgeführten Operationen des Übersetzungsprogramms verdankte. Prigovs poetische Versuche am Computer sind, so Sylvia Sasse, in einem post-sowjetischen Kontext zu sehen, in welchem sich weniger Apologeten als vor allem Skeptiker der neuen Medienkultur finden. Sie schreibt: "Im russischen Kulturbetrieb werden ... Zweifel an der Perfektion und Totalität laut; diskutiert wird ... das Versagen der Technik, die Automatisierung des Bewußtseins, die sich auch nach Beendigung des Generalprogramms nicht mehr abschalten läßt ..."(33). In Rußland rechnet man, so Alexej Shulgin, "eher damit, daß Computernetze zusammenbrechen" (ebd.), die Kommunikation also unterbrochen wird.

KünstlerInnen haben mit ihren Netzprojekten schon früh Strategien der Irritation gegen den Internet-Hype entwickelt. Gegen die glatten Oberflächen wird der rohe Quellcode und die mediale Störung gesetzt, gegen die in den glatten Oberflächen mitschwingenden technoutopische Hoffnungen fährt man eine Strategie der Enttäuschung. Die im besten Fall eine Ent-Täuschung über die eigenen Hoffnungen in die utopischen Potentiale der Technologie ist. Zu dieser Ausrichtung der frühen Netzkunst haben KünstlerInnen aus Osteuropa in maßgeblicher Weise beigetragen ­ neben Alexej Shulgin und Vuk Cosic wären auch noch Luka Frelih, Olia Lialina, Marko Peljhan, Igor Stromajer und andere zu nennen. Ich möchte sogar behaupten, daß die Erfahrungen, die diese Künstler als (post-)sozialistische Subjekte mitbrachten, die Netzkunst insgesamt stark geprägt haben, besonders was das Verhältnis zur Störung als einer der Technologie inhärenten Tatsache sowie die Erwartung des notwendigen Versagens der Technik angeht. Netzkunst ist, besonders in ihrer Frühphase bis 1997, als genuines Produkt translokaler Vernetzung eines der ersten gesamteuropäischen Phänomene nach dem Mauerfall.

Inke Arns, Berlin, März 2001
 
 

Postscriptum: Anfang März 2001 teilte Vuk Cosic mit, daß er als einer der beiden Teilnehmer des Slowenischen Pavillons der Biennale di Venezia 2001 beabsichtige, eine net.art-Gruppenausstellung ("Net.art Per Me") zu kuratieren. Voraussichtliche Teilnehmer (Stand 5.3.2001): Alexej Shulgin, RTMark, Heath Bunting, 0100101110101101.org, Jodi, Tom Jennings, VinylVideo, Vuk Cosic.
 

Anmerkungen

1. <http://www.nettime.org>. Alexej Shulgin, 'Net.art - the origin', in: Nettime, 18 March 1997, auch veröffentlicht in: P. Schultz / D. McCarty / V. Cosic / G. Lovink (Hg.), ZK Proceedings 4: Beauty and the East, Ljubljana: Digital Media Lab, 1997, S. 28 <http://www.ljudmila.org/nettime/zkp4>

2. Anonyme (Re-)Mailer ermöglichen den anonymen Versand von e-mails. Einer der bekannteren Anonymen (Re-)Mailern wurde 1992 von Johan Helsinguis in Finnland eingerichtet <anon.penet.fi>, mußte jedoch 1996 auf Drängen der Scientology Sekte schließen. Vgl. Michael H. Spencer, 'Anonymous Internet Communication and the First Amendment: A Crack in the Dam of National Sovereignty', in: Virginia Journal of Law and Technology, Spring 1998, 3 Va. J.L. & Tech. 1 <http://www.student.Virginia.EDU/~vjolt/text_only/vol3/vol3_art1.html>

3. ASCII = American Standard Code for Information Interchange

4. Die Diskussion über den Begriff net.art befindet sich im Nettime Mail Archiv <www.nettime.org>. Eine Zusammenstellung und -fassung der unterschiedlichen Argumente ist publiziert in: ZK Proceedings 4: Beauty and the East, Ljubljana: Digital Media Lab, 1997 <http://www.ljudmila.org/nettime/zkp4>

5. Die 1993 von Barbara Aselmeier, Joachim Blank, Armin Haase und Karl Heinz Jeron gegründete Gruppe Handshake war in Deutschland das erste Kommunikationsprojekt unter Einbeziehung des elektronischen Netzwerks Internet (noch vor dem WWW). Als interaktive Rauminstallation realisiert, bildete es eine Schnittstelle zwischen elektronischem Netz und Lebenswelt. Vorbereitete Kommunikations- und Wahrnehmungsexperimente (z.B. Rorschachtest) auf textueller, visueller und auditiver Basis verwiesen dabei auf kulturelle Eigenheiten und Gemeinsamkeiten der Partizipierenden. Handshake verstand sich als ein fortlaufender Prozess mit der Absicht, Verhaltensweisen von Menschen und Automaten in elektronischen Netzwerken zu beobachten. Handshake (1993-1994) <http://sero.org/handshake/>

6. Vgl. Andreas Broeckmann, 'Net.Art, Machines, and Parasites', in: Nettime, 8. März 1997 <http://www.nettime.org/nettime.w3archive/199703/msg00038.html>

7. Heath Bunting, _readme, 1998 <http://www.irational.org/heath/_readme.html>. Ein anderes Projekt, das die Privatisierung von Sprache im Internet thematisiert, ist Daniel Garcia Andujars Language (property) (1997) <http://www.irational.org/tttp/TM/trademark.html>. Hier werden Sätze aufgeführt, die unter das Markenschutzrecht fallen ("Solutions for a Small Planet" (TM), "Where do you want to go today?" (TM), etc.).

8. Ein Domainname ist z.B. "mikro" in http://www.mikro.org. Letzter Teil einer URL ist immer eine Top Level Domain. Diese setzen sich aus Generic Top Level Domains (GTLDs) und Country Code Top Level Domains (CCTLDs) zusammen. GTLDs sind heute: .org, .edu, .com, .gov, .mil, .int, .net. Daneben gibt es ca. dreihundert zweilettrige CCTLDs wie z.B. .de, .ru, .uk.

9. Vgl. Valentina Djordjevic, 'Textverarbeiter und Screendesigner: Internet für Netzkünstler leichtgemacht', in: netz.kunst, Jahrbuch '98-'99, hg. v. Institut für moderne Kunst Nürnberg 1999, S. 18-21

10. HTML = Hypertext Markup Language; Programmiersprache zum Erstellen von Webseiten.

11. Quellcode, oder Sourcecode: die in einer höheren Programmiersprache geschriebene und daher menschenlesbare Version eines Programms; bevor er von einem Computer ausgeführt werden kann, muß er in Objektcode kompiliert oder interpretiert werden.

12. I/O/D, Webstalker, 1997 <www.backspace.org/iod>

13. Inke Arns, 'A Particular Site-specificity, or: Do I Have a Good Reason to Be Here?', Lecture given at the conference "Netz, Kunst und Publikum - Vermittlungsstrategien der Netzkunst", Künstlerhaus Bethanien, October 1998, in BE Magazin, Berlin, Spring/Summer 2000; sowie <http://www.v2.nl/ arns/Texts/Media/net-e.html>

14. Blank&Jeron, Scanner++, 1998 <http://sero.org/scanner>. Scanner++ wurde für die Austellung "body of the message" im Neuen Berliner Kunstverein 1998 entwickelt <www.nbk.org/Ausst/Body/body.html>.

15. Vgl. Hans Dieter Huber, 'Materialität und Immaterialität der Netzkunst', in: kritische berichte. Zeitschrift für Kunst- und Kulturwissenschaften, 1/1998, S. 39-53

16. Blank&Jeron, without_addresses (1997) <http://sero.org/without_addresses/>

17. Gerrit Gohlke, 'Greifen Sie zu!', in: Ortsbegehung 4 - body of the message, [Sandra Becker, Joachim Blank & Karl Heinz Jeron, Daniel Pflumm], Kat. Neuer Berliner Kunstverein, hg.v. Inke Arns, Berlin, 4. Juli - 16. August 1998, [o.S.] sowie <http://www.nbk.org/Ausst/Body/gohlkeD.html>

18. Andreas Broeckmann, 'DEAF98 - The Unreliability of Accidents' (Konzept), Rotterdam, 17 - 29 November 1998

19. HTML = Hypertext Markup Language; Programmiersprache zum Erstellen von Webseiten.

20. Quellcode, oder Sourcecode: die in einer höheren Programmiersprache geschriebene und daher menschenlesbare Version eines Programms; bevor er von einem Computer ausgeführt werden kann, muß er in Objektcode kompiliert oder interpretiert werden.

21. Vgl. Gottfried Kerscher, 'Bild - Icon - Eyecatcher. Zur Bildstrategie im Internet', in: net.art, Jahrbuch Nürnberg 1998, S. 110-117

22. ASCII Art Ensemble <http://www.desk.org/a/a/e/first.html>

23. Der G2 Real Player ist eine weitverbreitete, im Internet kostenlos herunterladbare Software mit der man Audio- oder Videodateien abspielen kann. Ein Plug-In für den G2 Real Player ist eine Software, die bestimmte Dateiformate für den G2 Real Player les- und abspielbar macht.

24. ASCII Art Ensemble, ASCII to Speach history of art for the blind <http://www.ljudmila.org/~vuk/ascii/blind/>

25. ASCII Art Ensemble, Deep ASCII <http://www1.zkm.de/~wvdc/ascii/java/>

26. CGI-Skripte oder -Programme (= Common Gateway Interface Programme) sind oft in der Programmiersprache Perl geschrieben und bewirken, daß Daten, die von einem Benutzer via e-mail an den Server gesendet werden, ggf. als Text auf der Website erscheinen.

27. Cookie = dt. Keks; eine Zeichenfolge, die von einem Server auf dem Computer des Benutzers abgelegt wird und dessen Identifikation gewährleistet.

28. Cornelia Sollfrank, Netart Generator (1999) <http://www.obn.org/generator>

29. Vgl. Ute Vorkoeper, 'Programmierte Verführung', in: Telepolis, 2.12.1999 <http://www.heise.de/tp/deutsch/inhalt/sa/3466/1.html>

30. Alexej Shulgin, Form Art (1997) <http://www.c3.hu/collection/form/>

31. Lev Manovich, 'On Totalitarian Interactivity', Syndicate mailing list, Sept. 1996

32. Lev Manovich. Behind the Screen. Russian New Media. In: Convergence [New Media Cultures in Eastern, Central and South-Eastern Europe], ed. by Inke Arns. Summer 1998 Vol 4, No. 2.10-13. Hier: 11.

33. Sylvia Sasse. "Anna Karenina na Puti v Raj" ­ Netzkunst, Computerperformances und einige Illusionen von der Elektrifizierung des ganzen Landes. In: Die Welt der Slaven. XLIV, 1999, 285-306. Hier: 287.