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Anlaß dieses Textes sind Eindrücke beim Besuch zweier internationaler
Medizinkonferenzen(2) in San Diego, die im Januar 1998 stattgefunden haben.(3) Beide Konferenzen gingen in Teilen des Programms zusammen, es kann meines Erachtens die eine gleichsam als Fortsetzung der anderen
betrachtet werden, nämlich als Artikulation, mehr noch als Verdichtung
des aktuellen militärisch-medizinischen Komplexes, wie er sich vielfältig
gerade in San Diego erforschen läßt.
Der Standort San Diego
Denn "Komplex" hat in bezug auf den Standort San Diego eine besondere Bedeutung, wie ein flüchtiger Blick in eine touristische Broschüre erahnen lassen kann, die für verschiedene Stadtrundfahrten durch die
"Navy Town" wirbt: "Join Old Town Trolley Tours as we show you one of the largest military complexes in the world."(4) Der Ort der Konferenz erscheint keineswegs zufällig, sondern trifft auf eine spezifische ökonomische, politische, geographische und soziale Konstellation.
Die Grenze zu Mexiko ist nah, so nah, daß sie mit der städtischen
Straßenbahn, dem "Trolley", erreicht werden kann. Militärische, gesperrte Zonen häufen sich im Stadtbild und der Region, Ehrenmale für Gefallene sind nicht zu übersehen, die Navy prägt die Region auch durch Wohngebiete für die Angehörigen von Aktiven
oder Entlassenen der Army. Vermischungen mit der zivilen Welt sind vielfach
wahrnehmbar und z.B. im universitären Bereich zu bemerken. So werden
an der UCSD (University of California San Diego) Professoren aus Militäreinrichtungen in den Dienst übernommen, signifikant auf dem Gebiet der neuen Medien. Beim Gang in irgendeine Buchhandlung läßt sich noch eine spezifische Beobachtung des militärischen Komplexes durchführen, der geschlechtsspezifisch situiert wird. Es lassen sich im Bereich 'Women' diverse Taschenbücher über Lady Diana oder Fantasy-Romane finden. Im Bereich 'Men', der hier extra ausgewiesen ist, großformatige militärische Bildbände, Bücher zur Militärgeschichte, auch Berichte von der 'Operation Desert Storm' oder dem Bosnien-Einsatz. Erinnert sei an dieser Stelle auch an einen Amokfahrer, der 1995 Geschichte machte und als Nachricht aus San Diego die internationalen Schlagzeilen füllte: Ein Panzer wurde gestohlen und über den Highway, über einige Autos und Häuser gefahren. Es war jemand, der zum Panzerfahren ausgebildet worden war und im Zuge des sogenannten Downsizing des Militärs, Budgetkürzungen und Personalabbau, entlassen worden war.
Jenseits dieser vermischten Aperçus liefert eine Internet-Dokumentation
der U.S. Navy(5) Zahlen und Fakten über den gegenwärtigen Status des Militärs in San Diego, wie er sich auch nach den maßgeblichen Kürzungen der nationalen Verteidigungsausgaben seit 1990 immer noch als entscheidende Größe präsentiert.(6)
Hinzuzufügen ist noch, daß die Jahresausgaben des Department
of Defense für San Diego County gegenwärtig 9,6 Billionen
Dollar(8) betragen. Daß hier traditionell enge Verflechtungen mit der Industrie gerade im Bereich der Luft- und Raumfahrt, der Rüstung im engeren und weiteren Sinne bestehen, von der Produktion von Missiles bis zu Hochtechnologien im Bereich Kommunikation und Navigation, trägt zum hohen durchschnittlichen Einkommen der Region bei.
Eine weitere Umstellung wird aktuell staatlich gefördert und unter
dem Titel "Areas of Opportunities" von der kalifornischen Trade and Commerce Agency annonciert. Hier wird mit günstigen Gelegenheiten geworben, die "venture capitalists" einladen, an eine bereits existierende Konzentration von über 200 Firmen dieses neuen Technologie-Bereichs in San Diego anzuknüpfen. Definiert als "techniques that use living organisms
or their components to make products"
Jedoch haben sich seit den einschneidenden Maßnahmen des militärischen Downsizing bereits signifikante Verschiebungen ergeben. Die Zahl der Arbeitslosen in Kalifornien ist seit 1990 im Verhältnis zur Gesamtzahl der Vereinigten Staaten erheblich steiler angestiegen und liegt immer noch über dem Durchschnitt.(9) Insbesondere im Bereich der Luft- und Raumfahrtsindustrie geht die Zahl der Stellen beständig zurück mit weitreichenden Effekten auf die gesamte kalifornische Ökonomie. Ebenso wie viele hochbezahlte Stellen in den militärischen Hochtechnologie- Bereichen entfallen sind, so sinkt gleichfalls der Absatz der zuarbeitenden regional
ansässigen Industriezweige. Eine Umstellung auf zivile Märkte
hat in weiten Bereichen bereits stattgefunden, insbesondere der Informationstechnologien, z.B. der High-Tech-Medizin. Dieser Entwicklung entspricht die Förderungspolitik des Department of Defense. Die DARPA finanziert gemäß dem "Dual-Use-Act" bevorzugt Forschungsvorhaben, die auch im zivilen Gesundheitswesen Einsatzmöglichkeiten
versprechen. Ein Technologietransfer in größtem Maßstab
ist auf diese Weise avisiert: das über Jahrzehnte angesammelte militärisch-technologische Wissen soll in den medizinischen Bereich einfließen, auch um Arbeitsplätze der angeschlagenen Militärindustrie zu erhalten.
Allerdings stellte diese spezifische lokale Konstellation, die sich
bereits als ökonomische Shift vom militärischen zu zivilen Hochtechnologien
und in Richtung auf das bio-medizinische Feld angedeutet hat, kein Thema
der Konferenzen dar. Problematisierungen des sogenannten "doppelten
Nutzens" im militärischen und zivilen Bereich, z.B. im Sinne einer
zweifelhaften Militarisierung und Technologisierung der Medizin hatten
keinen Ort und wurden auch in Diskussionsbeiträgen nicht zur Geltung
gebracht.
Ausgangspunkt der Tour bildet nun die 6. Konferenz der jährlich
stattfindenden Reihe "Medicine Meets Virtual Reality", die sich als das
1. internationale Forum bezeichnet, unter dem Medizin und interaktive Technologie
eine Schnittstelle bilden, um etwas zu bewirken: "to create the future
of healthcare".
Die Perspektive war demgegenüber global und durchaus optimistisch
angelegt: Nicht nur die Zukunft des amerikanischen Gesundheitswesens, nein
sogar die Zukunft der Erde, ja des Lebens selbst, bildeten, wenn nicht
den Mittelpunkt, so doch den feierlichen Fluchtpunkt vieler Präsentationen.
Dies allerdings bei einer überdurchschnittlichen Anzahl von Sprechern
aus San Diego und Kalifornien, die in der Wissenschaft und unternehmerisch
im Bereich des Technologie-Business engagiert waren, sowie einer grundmotivisch
durchgehaltenen militärischen Bezugsgröße: der medizinischen
Versorgung auf Schlachtfeldern der Zukunft, wie sie in verschiedenen Szenarios
immer wieder vor Augen geführt wurde. Die Angaben der Informationsbroschüren
beider Konferenzen antworteten auf die Frage "Who should attend?" mit einer
fast identischen Liste "Physicians, Surgeons, Roboticists, Information
Scientists, Medical Technologists, Biotech Entrepreneurs & Researchers,
Biomedical Professionals, Medical Technologists, Venture Capitalists &
Corporate Futurists (...), Anyone interested in the future of medicine
and biotechnology", doch erklärte dies allein noch nicht so viele
spiegelglatt polierte Lackschuhe, anscheinend universeller Bestandteil
hochrangiger US- Uniformtypen, die auf den dicken Teppichböden der
Lobbies und Konferenzsäle, umfunktionierten "Ballrooms" des Hotels,
in erstaunlicher Reglosigkeit verharrten, "Attendees" der Konferenz.
Es wird jetzt darum gehen eine persönliche "guided tour" zu unternehmen
durch etwas, das sich aus meiner Perspektive im Laufe der Konferenzen
unter dem Stichwort "militärisch-medizinischer Komplex" herauskristallisiert
hat. Der weitgespannte Rahmen dieser Tour verdankt sich abbildlich
dem ausgreifenden Konzept der Konferenzen, die unter eingetragenen Warenzeichen
nicht weniger versprechen, als die Zukunft der Menschheit zu bestimmen
als eine bessere, sicherere, gesündere.
Das diesjährige Thema formulierte sich als: "Art, Science, Technology:
Healthcare (R)evolution". "Medicine is art. Medicine is supported by science. Medicine is enabled by technology.", so lauteten die Slogans auf den Postern und Hochglanzprospekten. Das Programm-Komitee bestand aus 33 renommierten Vertretern aus Regierungseinrichtungen, Universitäten und der Wirtschaft.(14)
Die zweite Konferenz, die erstmalig stattfand und die auch den Titel
dieses Textes geprägt hat, führte den Namen: "Bio(r)Evolution, NextMed: The End of Healthcare? (Thought ¥Health¥ Immortality)". Programm-Verantwortlicher war in diesem Fall eine einzelne Person, Dr. Shaun B. Jones, der auch im Programm-Komitee der anderen Konferenz vertreten ist. Shaun B. Jones ist Angehöriger der Defense Advanced Research Projects Agency. Er erfüllt dort die Aufgabe eines "Program Manager for Unconventional Pathogen Countermeasures in the Biological Warfare Defense Program".
Die Titel und Untertitel der Konferenzen lassen bereits den Stil erkennen,
der auch die jeweilige Formulierung der Thesen, Fragestellungen und Zielsetzungen
der Konferenzen dominiert. In die Augen springt zunächst der Schutz
der Titel als eingetragene Warenzeichen. Die nachgestellte Abkürzung
"" heißt "Trademark", also Schutzmarke oder Warenzeichen. Offensichtlich ist, daß Worte hier die Eigenschaft haben, Warennamen zu sein, Bestandteil des Geschäfts. "Medicine is Art", hieß es programmatisch. Zumindest in dem Sinne, daß die Kunst des Produkt-Marketings exerziert wird, erfüllt sich die Aussage prompt.
Wer schon Worterfindungen schützt, die den Namen der Revolution
entwendet haben, gibt unmittelbar zu erkennen, daß darauf spekuliert
wird, daß das richtige Wort am richtigen Platz Gold wert sein wird,
z.B. eine entscheidende Beeinflussung bewirken kann. Da die Tendenz der
Beiträge nicht grundlegend variierte, scheint es kaum übertrieben,
jedem Wort, auch innerhalb der einzelnen Beiträge, im Geiste ein kleines
"" anzuhängen. Worte scheinen in diesem Kontext Werkzeuge einer Verkaufsstrategie zu sein, abgesehen von den gepfefferten Teilnahmegebühren, von bis zu 630$ pro Konferenz. Im Duktus der Konferenzen könnten sie
als 'Werkzeuge aus Information' bezeichnet werden. Denn in steter Wiederholung
heißt es in Einleitungen und Schlußworten "The future of healthcare
is information." Wir wissen bereits: Information, die verkauft und die
man verkaufen kann. Wenn es schon um Informationstechnologien und die Vorbereitung
des Marktes geht, so formuliert sich dies auf den Konferenzen stilvoller
im Leitwort: "Information Heals".
Diese Healthcare(R)evolution, bei der sich das eingeklammerte (R) der
Vorstellung andient, daß eine zukünftige positive Entwicklung
im amerikanischen Gesundheitswesen wie eine natürliche Evolution der
Arten vollziehen wird, möchte die explodierenden Kosten und Unzulänglichkeiten
des amerikanischen Gesundheitssystems verringern helfen, indem in
Informationstechnologien im weitesten Sinne investiert wird.
Was unter 'Information' im Bereich des Gesundheitswesens verstanden wird, variiert in der spezifischen Qualität . Es können sowohl
Selbsthilfegruppen gemeint sein, die Erfahrungen über das Netz austauschen,
wie Chipkarten für elektronische Patientenakten mit extremer Speicherfähigkeit, oder auch Fortschritte bei der Entzifferung des menschlichen Genoms.
'Information' kann auch Gesundheitsaufklärung, -erziehung im weitesten
Sinn meinen. So ist die Titelfrage der Konferenz NextMed: "The end of healthcare?"
keinesfalls als kritische Frage nach dem möglichen Zusammenbruch oder
Ruin des US- Gesundheitswesen gemeint, sondern als positive Zukunftsvision.
Die Idee, die immer wieder vermittelt wurde, lautete: Durch eine neue Form
der 'Healthcare' ließe sich ein Großteil der Kosten im Gesundheitswesen
vermeiden, zum Beispiel durch weitgehende Reduzierung der Arztkontakte.
Wie ist diese Vorstellung mit dem Anspruch einer qualitativen Verbesserung
des Gesundheitssystems zu vereinbaren?
Erläuternd werden Statistiken angeführt, die den aktuellen
Zustand als in höchstem Ausmaße ineffektiv darstellen sollen:
50-80 Prozent der Personen, die einen Arzt aufsuchen, brauchen nicht wirklich
ärztliche Hilfe. Für 70-80 Prozent der gesundheitlichen Probleme
kann man selbst sorgen, wenn man das genügende Wissen hat. Da bleibt
nicht mehr viel übrig.(15)
Der Rest an nötiger Healthcare im Falle anerkannter, gewissermaßen
objektivierter Gesundheitsprobleme solle, so wurde in Vorträgen
entwickelt, durch gentherapeutische Interventionen zu beseitigen
sein, zum Beispiel gegen Alterungsprozesse oder Krebs.(16) Das Ideal ewiger Gesundheit für alle wird allen Ernstes visioniert und als glückliches Ende der "Healthcare" in Aussicht gestellt, gentechnologische Waffen gegen Alterungsprozesse und Tod wurden mithilfe der Beschreibung vielversprechender Tierversuche in greifbare Nähe gerückt. "Thought ¥ Health
¥ Immortality". Im Konferenzprogramm von NextMed stellt sich diese Perspektive mit folgenden Formulierungen her:
Krankheit, so wird suggeriert, kann bald der Vergangenheit angehören,
besiegt durch Informationstechnologien. Aber was kann das heißen,
wenn mit 'Information' geheilt werden soll? Ein kritisches Bewußtsein
oder ein spezifisches Wissen kann so mit der genetischen Information von
Körperzellen gleichgesetzt werden als sei das alles eins. Die Entdifferenzierung
möglicher Bedeutungen durch die Reduktion auf ein und denselben Zentralbegriff
gerät zu einer Figur, die im Material der Sprache den Träger
für interessengeleitete Überzeugungen abgibt: bis hin zum Glauben
an eine Unsterblichkeit, ewige Gesundheit, glückliches Leben
durch die technologische Beherrschung dieser allumfassenden 'Information'.
Exemplarisch möchte ich nun auf zwei Projekte, bzw. Forschungsschwerpunkte
eingehen, die zusammenwirken und die Realisierung dieser 'Information'
auch auf nicht-sprachlichem Terrain durchführen und konkrete
Folgerungen absehen lassen. Es geht zum einen um die langfristigen Bestrebungen,
telepräsentische Anwendungen in der Medizin der Zukunft einzuführen. Telepräsenzsysteme bezeichnen eine Form der Virtuellen Realität.
Das Prinzip besteht darin, ein robotisches Endgerät aus räumlicher
Entfernung anzusteuern und Befehle ausführen zu lassen. Um nun zu
wissen, welche Kommandos sinnvoll gegeben werden sollen, ist es nötig
eine Repräsentation der Umgebung des Ausführungsortes möglichst
in Echtzeit zum Ort des Kommandogebers zu übermitteln. Traditionelle
Forschungsgebiete betreffen die Handhabung von gefährlichen Substanzen
aus sicherer Entfernung, wie im Falle radioaktiver Strahlung, sowie unbemannte
Aufgaben im Weltall oder chirurgische Eingriffe über große Entfernungen,
z.B. als Versorgung an entfernten Kriegsschauplätzen.
Was sind die Konsequenzen dieses einfachen und effektiven Manövers
im sprachlichen und philosophischen Bereich? Es steht hier nicht
weniger auf dem Spiel als die Abschaffung dessen, was in sozialen, kulturellen
und juristischen Traditionen bisher als Subjekt verstanden wurde.
Das Ich scheint hier qualitativ als gleichartig mit der Information verstanden
zu werden, die z.B. aus einem Haarbüschel als genetische Individualität
festgestellt werden könnte. Ein komplexer Prozeß der Wissensaneignung
und Wissenskritik, früher gängigerweise als Wissenschaft
bezeichnet, die als kulturelle Arbeit verstanden wurde, wird hier mit dem
einen Informationsbegriff abgeschafft.
Auch die Vorsilbe "Bio-" vor der evolutionären Revolution durch die 'Information' dankt als ein Begriff ab, der noch einen Widerstand anzeigen sollte, zum Beispiel in ökologischer, politischer Diktion. "Bio-", das ist hier z.B. genetische Information oder medizinische Daten in Simulationsumgebungen. Auch deren 'Realisierung', wie zum Beispiel beim Cloning ist 'Information'.
In dieser Weise lesen sich auch die hoch gegriffenen Parolen der Konferenz
Medicine Meets Virtual Reality: "Medicine is Art" das kann im vollen
Wortsinn behauptet werden, wenn es Kunst und Kultur im alten Sinne nicht
mehr gibt. "Medicine is supported by Science" das erstaunt, da sonst
Medizin selbst als eine Wissenschaft galt. Hier ist die Medizin über
die Wissenschaft aufgestiegen als Herrscherin über die 'Information'
und das Leben. Dankbar erinnert sich die programmatisch eingesetzte Welt-
und Lebensbeherrscherin doch der Hardware, die ihr diese Macht gegeben
haben soll: "Medicine is enabled by Technology." Technologie, das muß
nicht mehr gesagt werden, ist computerbasiert.
Im weiteren soll das wohl umfassendste Projekt medizinischer Datenvisualisierung,
das "Visible Human Projekt" der National Library of Medicine, US vorgestellt
werden. Die in diesem Zusammenhang erstellte 3dimensionale virtuelle
Körperrepräsentation bietet auch für zukünftige telepräsentische
medizinische Anwendungen ein technisch neuartiges 'Modell' des menschlichen
Körpers, das als "realistische" Körperrepräsentation gehandelt
wird. Beide gewählten Projekte sind konzeptuell und technisch
kompatibel wie ein Rechner und Peripheriegeräte, oder wie Hard-
und Software.
Telepräsenzen
Telepräsenz verbindet die griechische Vorsilbe 'tele-', fern, mit
Präsenz, zu einer 'Fern-Präsenz', einer neuartigen, gespaltenen Gegenwart oder Anwesenheit.
Der Begriff "Telepräsenz" wurde 1969 am Massachusetts Institute of Technology geprägt - von Marvin Minsky, Professor für Künstliche Intelligenz. Sein Text "Towards a Remotely-Manned Energy and Production Economy" bietet folgende Veranschaulichung des Konzeptes:
Aber was ist da eigentlich beschrieben? Bewegungen der eigenen Arme,
Hände und Finger werden an einem anderen Ort ausgeführt, außerhalb
des Körpers. Werden Bewegungen in die Ferne transportiert? Und: Was
heißt in diesem Kontext 'Handbewegung'? Aufgezeichnet und übertragen
wird ein räumliches Ereignis, in einem zeitlichen Ablauf eine
dreidimensionale Raumkurve, die in einer bestimmten Richtung und
Geschwindigkeit durchlaufen wird. Solche Bewegung, sofern sie in Signale
übersetzt und fernübertragen wird, kann zugleich an einem
und an einem anderem Ort stattfinden. Übersetzungen beinhalten allerdings
mögliche weitere Vervielfältigungen und Variationen dieser Bewegungen.
Essentieller Bestandteil eines Telepräsenzsystems ist dabei die
Visualisierung der am fernen Ort von Sensoren "berührten" oder "angeblickten"
Objekte. Am deutlichsten wird dies bei 3dimensionalen Simulationen. Diese
Visualisierungen können in der Simulation über HeadMountedDisplays
oder die verschiedenen Modelle der immer leichteren und kleineren Shutter-Brillen
eingespielt werden. Selbst als Laserstrahl, der das Bild ohne ein Display
vor dem Auge direkt in das Auge, auf die Retina projeziert ("Virtual
Retinal Display") ist eine Bildausgabe denkbar. Der bildliche "Realismus" dieser Visualisierungen im Sinne hochauflösender wie photographischer
Bildqualität ist hierbei wegen des großen, verzögernden
Rechenaufwands nicht primäres Ziel. Auch über möglicherweise
auf den ersten Blick primitive Visualisierungen, die vielleicht an graue
Schatten oder auch bunte Klötzchenwelten erinnern, sind komplexe reale
Aktionen ausführbar. Berichtet wird von Benutzern solcher Telepräsenzsysteme regelmäßig eine andere Erfahrung, die den Eindruck erlebter Realität auf ein 'Präsenzgefühl' zurückführen. Als entscheidend werden die Veränderungen der 3dimensionalen Bildwelt entsprechend den Kopf- und Handbewegungen erlebt. Strukturierend wirkt hier die Wahrnehmung, daß mit einer Handbewegung (z.B. im Datenhandschuh oder am mechanischen Manipulator-System) sich die bildliche Repräsentation der Hand ähnlich bewegt. Wenn der Kopf gedreht wird, wird sich der Winkel der eingespielten Bildlichkeit ebenfalls drehen,
wenn das Werkzeug gesenkt wird, wird auch die bildliche Simulation ein
Senken der Werkzeugspitze zu sehen geben. Jedoch bleibt erkennbar: die
Bewegung, die gesehen wird, ist eine andere als die, die ausgeführt
wird. Was in einem telepräsentischen System wahrgenommen wird, ist
nicht das, was getan wird, nämlich nicht das, was von den Endgeräten
ausgeführt wird. Formelhaft ausgedrückt: Ich sehe nicht, was
ich tue. Jedoch wird der Benutzer 'sich' aus der wahrgenommenen Synchronizität der Bewegungen als handelndes Subjekt rekonstruieren müssen und diese zeitliche Korrelation als Garanten einer pragmatisch angenommenen Identität interpretieren.
Ein verfilmte Szenario des US- Verteidigungsministeriums von 1994
zeigt bereits Soldaten, die im Falle einer Verwundung, nach elektronischer
Ortung und Ferndiagnose nur noch von Kameraden in einen Operationscontainer
transportiert und von einer Krankenschwester in die richtige Lage zum Operationsroboter
gebracht werden müssen, so daß ein vom Spezialisten aus sicherer
Entfernung gesteuerter Roboter das Projektil entfernen und die Wunde nähen
kann. Der Eindruck dominiert, daß eine saubere, präzise Arbeit
an einer Art Bausatz durchgeführt wird, als der der Körper des
Soldaten hier erscheint.
Das Problem stellt sich: Mit welcher Orientierung sollte jemand seine
Hände bewegen, um mit der Übertragung dieser Bewegungen in die
Ferne etwas zu tun? Die in Minskys Text genannten Sensoren der künstlichen
Hände geben hier Rückmeldung. Zum Beispiel können diese
künstlichen Hände 'fühlen' und 'sehen', indem Signale an
den Operator zurückgeleitet werden, die maschinell in ein Fühlbares
und Sichtbares übersetzt werden müssen. Die künstlichen
Hände fungieren als Sonden in fernen, unzugänglichen Gebieten,
um ein 'Fernfühlen 'und 'Fernsehen' des Operators zu ermöglichen,
das er durch Bewegungssignale steuern kann. An ein solches Gerät angeschlossen
könnte jemand irgendwo auf dem Mount Everest einen Stein aufheben
oder einem Bergsteiger ins Gesicht blicken, falls sich die sonderbaren
'fühlenden' und 'sehenden' Hände dort befinden. Wenn sich die
telepräsentischen Hände im gleichen Raum befänden, wäre
es auch möglich 'sich' anzublicken und den eigenen 'Körper' zu
fühlen, wie mit einem Griff über Zeit und Raum hinweg, unter
Dissoziation des 'Körpers', auch wenn nur Signale, keine Körperteile
fernübertragen werden.
Verwirren kann bei solch künstlicher Selbstbezüglichkeit
die Überlegung: Wo ist 'hier', wann ist 'jetzt'? Das zu beantworten
wird ebenso ungewohnt wie die Frage: wo sind die Grenzen meines oder eines
anderen Körpers? Welche Rolle spielen die vom Ausführungsort
gesendeten Bilddaten im Verhältnis zu den räumlichen Bewegungsaufzeichnungen?
Was 1969 als Sensoren benannt wurde, die visuelle, taktile und räumliche
Informationen rückmelden sollten, bzw. als "Hände", die in der Ferne operieren können, wird heute in zahlreichen Produkten realisiert
und wurde in vielfältigen Beispielen auf den Konferenzen präsentiert.
Zu nennen ist hier exemplarisch ein DARPA- Projekt, entwickelt vom Spawar
Systems Center, der sogenannte "Sensate Liner for Combat Casualty Care",
ein vom Soldaten zu tragender Computer in Gestalt eines T-Shirts, das ein
"Global Positioning Tracking System" enthält, das die Lokalisierung
seines Trägers im Umkreis von 3 feet (91,5 cm) erlaubt. Durch Software,
die in Form von elektrisch leitenden, codierten Fäden in das Kleidungsstück integriert ist, kann der Weg des Projektils berechnet werden, sowie eine
erste Analyse erstellt, welche Organe des Soldaten verletzt sein könnten.
Die optischen Sensoren des T-Shirts können das an der Wundöffnung
austretende Blut farblich analysieren und hinsichtlich venöser oder
arterieller Anteile bestimmen. Akustische Sensoren liefern Daten für
Prognosen über Geschwindigkeit und Größe des eingedrungenen
Projektils. Daten über die Atmung, den Blutdruck und den Puls werden
übermittelt, sowie physikalische Daten über Bewegung oder Stillstand
und Umwelt-Informationen, z.B. die Temperatur. Prozessor und Sender sind
als kleines Elektronic-Pack am Kleidungsstoff verbunden. Wird dieser tragbare
Computer im Verhältnis zu den von Minsky 1969 beschriebenen
fernwirkenden "Händen" gedacht, hätten diese "Hände" jetzt die Form eines T-Shirts, mit der Fähigkeit zu differenzierter Fernwahrnehmung, die für den überwachenden Arzt in Form von Bildern, Tönen und Diagrammen ausgegeben wird.
Soll diese Entwicklung den permanenten Anschluß zunächst
von Soldatenkörpern an den Datenraum eines universalisierten
Konzepts der Telepräsenz ermöglichen, so ist das folgende
Projekt konkret für die Optimierung von telepräsentisch eingesetzten
endoskopischen Operations-Werkzeugen konzipiert. In diesem Beispiel
befindet sich der Patient bereits unter dem ferngesteuerten Operations-"Händen". Der "Computerized Endoscopic Surgical Grasper" von der Universität Washington soll dazu dienen, das taktile Feedback bei Fernoperationen zu verbessern. Eine automatisierte Funktion erlaubt es dem Greifer selbständig durch eine Serie von Druckbewegungen mechanische Eigenschaften des angetasteten Gewebes zu erfassen und so Dünndarm, Lunge, Milz, Leber, Dickdarm und Magen zu erkennen. Auch haptische Differenzierungen hinsichtlich gesundem oder krankem Gewebe sind bereits in der Entwicklung.
In Hinblick auf das bearbeitete Objekt gilt auf dem Feld der telepräsentischen
Chirurgie: Operiert werden muß im eigentlichen Sinne am "Bild", allerdings in diesem Falle mit lebensentscheidenden Konsequenzen für den derart Abgebildeten. So kann ein Schnitt in diesen neuartigen 'Bild-Körper' als ein Rechenvorgang und als ein Schnitt in einen lebenden Körper wirken.
Wenn man sich einmal vergegenwärtigt, daß ein Satellit die
Handgesten des Chirurgen als codierte Datenströme an die Werkzeuge
weiterleitet, die im Bauch des Verletzten arbeiten, wären in
diesem Szenario nicht Weltraum, Erde und Körper der Soldaten als ein
einziges virtuelles und reales Schlachtfeld integriert? Und noch weitergedacht
wäre dieses Schlachtfeld selbst zu einem sonderbaren neuen, unermeßlichen 'Körper' aus Knochen, Fleisch und Daten transformiert, bildlichem Vorstellungsvermögen entgleitend. Computererzeugte Bildmöglichkeiten
tasten so auch etablierte Kategorien wie Fiktion und Dokument an, die bisher
ausgemachte Grenze zwischen Sichtbarem und Unsichtbarem oder auch die Grenze
zwischen lebendig und tot.
Es gilt hier einmal mehr die Beobachtung, daß bei einer qualitativen
Veränderung und Erweiterung bildtechnischer Möglichkeiten, ein
alter Wunsch wieder Wirksamkeit entfaltet, der sich als 'Glaube an das
Bild' bezeichnen ließe. Es ist der Glaube, über die vergrößerte
Beherrschung des Bildes auch dessen Referenz in der Realität habhaft
zu werden, auf den der entdifferenzierende Begriff der 'Information' zugreifenkann. Die Behauptung einer Veränderung der Bildmöglichkeiten, die womöglich tiefer in das "Gewebe der Gegebenheit" eindringt, als es bisher je der Fall war und eines neuen 'Glaubens an das Bild' soll nun am Beispiel des "Visible Human" Projekts etwas weiter ausgeführt werden. Die Mehrzahl der Vorträge auf beiden Konferenzen nahm Bezüge zu diesem Projekt auf.
Das "Visible Human Project" muß in vielfacher Hinsicht als prominent bezeichnet werden. Auch in den Medien in Zeitungsartikeln, Fernsehberichten
und online auf World Wide Web-Pages, ebenso wie auf den Fachkonferenzen
wird es als avanciertes und umfassendstes Projekt medizinischer Datenvisualisierung vorgestellt. Erstaunliches Motiv der populären wie seriösen Berichterstattung bildet die wiederkehrende Idee eines Übergangs:
von einem lebendem Organismus in ein sonderbar 'lebendes Bild'. Der Terminus erinnert wörtlich den vergangenen Glauben an die ehemals neue Bildlichkeit des Films. Denn unter den vielen frühen Bezeichnungen für die Medientechnik Film, kursieren Bezeichnungen wie "Bioskop", Biographe",
"Lebende Photographien" und "Lebende Bilder". Diesem Motiv einer Verwechslung mit dem neuartig abgebildeten 'Leben' möchte ich am aktuellen Beispiel des "Visible Human" nachgehen.
In Auftrag gegeben wurde der "Visible Human" von der US-amerikanischen National Library of Medicine. Medizinische Bild-Datenbanken, die in Hochleistungs-Computer-Netzwerken zugänglich werden sollen, stellen ein grundlegendes Ziel dieser Organisation
dar. Langfristig soll eine umfassende "Digital Library" realisiert werden,
in der medizinische Bild- und Textinformationen, als Wissensbasis aufgearbeitet
und zur Hypermedia-Struktur verknüpft, abrufbar sind. Dazu gehören
zum wesentlichen Teil Auswertungen visueller Informationsträger, die
von Experten segmentiert werden. Segmentieren, das heißt, z.B.
bei einer Computertomographie die Konturen von Knochen, Muskeln und Weichteilen
im Bild zu erkennen und zu markieren, damit im Bild durch Text- Markierungen,
die anatomischen Bezeichnungen jedes identifizierten Bildteils, als
ein "visuelles Wissen" organisiert werden können.
Als erstes Projekt auf dem Weg zu einer "Digital Image Library" wurde
das Projekt "Visible Human" entworfen und 1986 in Auftrag gegeben. Für
diese digitale Bibliothek des "sichtbaren Menschen" sollten zunächst
Volumendaten eines "complete, normal adult male and female" erfaßt
werden, und zwar durch digitalisierte photographische Querschnittsbilder
menschlicher Leichen, ergänzt durch computertomographische, und Magnet-Resonanz-Bilder.
Dies geschah in den letzten vier Jahren an der Universität Colorado,
Health Sciences Center unter der Leitung von Victor Spitzer, Informatiker
und David Whitlock, Anatom. Das Datenset der zuerst bearbeiteten männlichen
Leiche, erhielt den Namen "Adam".
Als "first digital description of an entire human being"
gerühmt, beschreibt der "Visible Human, male" nicht nur die eine spezifische Gestalt der männlichen Leiche, sondern nebenbei den ganzen Menschen, das "entire human being" neu. Durch die Forderung einer Erfassung eines ganzen "Menschen" in der Bilddatenbank wird eine bemerkenswerte Vollständigkeit der Aufzeichnung gefordert, die theoretisch unmöglich ist, da sie gegen unendlich strebt. Praktisch stellt sich die Forderung nach der technisch größtmöglichen Genauigkeit und Lückenlosigkeit der Bildaufzeichnung, gedacht als größtmögliche Datenmenge für eine hohe optische Bildauflösung.
Aus dem Datenmaterial sind nun in den letzten Jahren von
Wissenschaftlern weltweit immer "realistischere" Simulationen
erzeugt worden, die eine Vielzahl 3dimensionaler Visualisierungen,
sogenannter "virtueller Menschen" aus den Daten der photographischen
Schichtbilder erzeugt haben. Zukünftige Anwendungen des Datensets
"Adam" sollen ebenfalls Bewegungssequenzen des virtuellen Körpers erarbeiten, um aktive und passive Bewegungssimulation zu erreichen.
Doch bekannt gemacht wurde das Projekt "Visible Human" nicht schlicht als Datenmenge, sondern die Bilder der Leichen tauchten in Print- und TV-Veröffentlichungen als etwas ganz anderes auf, nämlich als "phantastische Schöpfung des ersten (echten) digitalen Menschen" : Das angebliche 'Leben' dieser Daten lieferte die Schlagzeilen und das heißt, das Datenset "Adam" wird im biblischen Wortsinn geradezu als Wiederholung der Schöpfung beschrieben, als Belebung toter Materie. Auch als Wiederbelebung, nämlich als "Wiederauferstehung" eines Toten in elektronischer Form taucht "Adam" in der Presse und im Fernsehen auf. Suggeriert wird so ein mögliches "Weiterleben" eines Menschen in Form einer lückenlosen, vollständigen, identischen Aufzeichnung im Computer. Die beanspruchte Lückenlosigkeit der bildlichen Aufzeichnung schlägt hier um in die Vorstellung einer Lückenlosigkeit zwischen Bildlichkeit und Abgebildetem, die nicht unterschieden von einer identischen Verdoppelung wäre: ein Bild ist hier wie ein Klon gedacht.
In einem Fernsehinterview(28) informiert auch Victor Spitzer selbst über geplante Animationen des Datenmaterials durch die Gestaltung von Muskelbewegungen, insbesondere die Hinzufügung der Bewegungsabläufe eines schlagenden Herzens, einschließlich der Simulation des gesamten Blutkreislaufs, - als handele es sich um den wissenschaftlichen Einsatz derjenigen Programme für Special Effects im Spielfilm, die bei der digitalen Modellierung synthetischer Figuren genauso auf einen realistischen Eindruck der Bewegungsabläufe angewiesen sind wie die medizinische Visualisierung. Victor Spitzer erläutert jedoch noch weitergehende Absichten der "realistischen" Belebung des virtuellen Körpers. Nicht nur vorbereitete Bewegungssequenzen sollen abgespielt und modifiziert werden können, sondern auch Programme mit mathematisch unvorhersehbaren Prozessen - wie diejenigen aus dem Bereich des 'Artificial Life' - sollen auf den virtuellen "Menschen" angewandt werden. Auf diese Weise könnten auch Alterungsprozesse mit Gewebeveränderungen und anderen physiologischen Konsequenzen simuliert werden; ebenso Krankheitsverläufe, z.B. das Entstehen eines Tumors an angegebenen Stellen im Gehirn beobachtet werden.(29)
Die geplanten Bearbeitungen des Datenmaterials "Adam" zielen auf
die Entwicklung von Virtual Reality Umgebungen, die neben dem visuellen
auch ein taktiles Feedback erlauben und zur Simulation chirurgischer Eingriffe
in den virtuellen Menschen dienen sollen. Der angestrebte hohe Realismus
dieser Umgebung soll z.B. die Formveränderungen in 3dimensionaler
Visualisierung ebenso wie den mechanischen Widerstand verschiedener Gewebe
beim Schnitt mit einem virtuellen Skalpell simulieren. Anwendungen
dieser bereits in Anfängen realisierten Hard- und Software-Gestaltung
des "Visible Human" werden in der chirurgischen Ausbildung als Operationssimulator liegen.
Der virtuelle "Mensch" kann beliebig seziert und interaktiv bearbeitet
werden, seine gespeicherte Gestalt läßt sich immer wieder spurlos
zusammenfügen. Die realen Schnitte scheinen durch Visualisierungsprogramme wieder zusammengefügt zu werden, als regelmäßige Differenz zwischen Volumeneinheiten sind sie im neuen virtuellen bildlichen Gewebe verschwunden.
Es ist eine Bildlichkeit, die von allen Punkten des Raums aus den Blicken
oder virtuellen Werkzeugen zugänglich gemacht werden kann, gedreht
oder geöffnet werden kann oder in die man, als vollständige Öffnung aufs Sichtbare hin wie in einen Tunnel eindringen kann. Eine Bildlichkeit wird erzeugt, die den 'Datenkörper' für den Blick geradezu umstülpen kann.(30)
Geübt werden könnte dann am jeweiligen Einzelfall. Denn bei
Verrechnung der "Visible Human" Datenstruktur mit den spezifischen
Daten des jeweiligen Patientenkörpers würde der jeweilige
Patientenkörper simuliert. Entscheidend ist diese Verrechnung, die
"Matching" genannt wird, da eine Repräsentationsfunktion entwickelt wird, die bisherige Unterscheidungen zwischen 'Modell' und 'Einzelfall' neu artikuliert. So wie der "Visible Human, male" zugleich individuelle Gestalt und strukturierte Wissensbasis ist, so kann der Datensatz eines beliebigen männlichen Patienten auf die analysierte Struktur dieses
einen virtuellen Menschen bezogen und spezifisch visualisiert werden.
Ein so geübter Eingriff soll in geeigneten zukünftigen Operationsräumen mit den gleichen Handgesten am realen Patienten auszuführen sein. Voraussetzung ist dabei eine telepräsentische Übertragung der
Aktionen im simulierten Patientenkörper durch einen Operationsroboter
in eine reale Operation. Verschiedene Pläne für Operationsräume
der Zukunft sehen derartige telepräsentische Übertragungen innerhalb
eines Raums als Normalfall eines chirurgischen Eingriffs vor.
Die Bildauffassung des "Visible Human" Projekts könnte aus dieser Perspektive als Entzifferung eines im Bild verborgenen, jetzt interpretierten
Wissens über den 'Menschen' gelten. Aber nicht nur der Bauplan des digitalen Bildes selbst ist als Datenmenge analysierbar und manipulierbar
gemacht, sondern über die Entzifferung des Bildes soll auch der Bauplan
des Abgebildeten, des 'Menschen' erkannt und bearbeitet werden können. Operiert würde in diesem Sinne ein neuartiger 'Bildkörper' auf der ungewissen Grenze zwischen Leben und Tod, zwischen der Materialität einer neuen Bildlichkeit und der Materialität eines menschlichen Körpers, das heißt: in der 'Information' wie es technisch präzise heißen muß, insofern hier eine Grenze bezeichnet wird.
In enger Korrespondenz zu diesen Überlegungen verhalten sich nun Elemente eines zentralen Vortrags der Konferenzen, der von einem der bekanntesten Protagonisten der Telemedizin und des Einsatzes von Virtueller Realität in der Medizin präsentiert wurde, Colonel Richard M. Satava. Als geistiger Vater der virtuellen Medizin und der Konferenzen selbst wurde er in San Diego vorgestellt. Seiner Biographie ist zu entnehmen, daß er nach langjähriger Arbeit als Projektleiter bei der Defense Advanced Research Projects Agency zur Zeit eine Professur für Chirurgie in Yale hat.
Wie ein Modell dieser Formulierungen wirken die im World Wide Web publizierten Ziele und Aufgaben der DARPA, dem früheren Wirkungsort Satavas:
Eben diese Perspektive , die die militärischen Forschungsangebote
als Kreativ-Pool für eine freie Entfaltung visionärer Ideen
begabter Informatiker und Ingenieure ansieht, vertritt nun seit Jahren
Richard Satava.
Sein Vortrag auf der Konferenz "NextMed" trug den Titel "The 5th Dimensional
Human: Integrating Physical, Biochemical and Informational Worlds." Was
hat es mit dieser erstaunlichen fünften Dimension auf sich?
Neben den drei Dimensionen des geometrischen Raumes und der vierten Dimension,
der Zeit, wurde als fünfte die Dimension der 'Information' eingeführt.
Im gesprochenen Wort formulierte Satava es folgendermaßen:
Hier wird beispielhaft entwickelt, was die Überwindung des 'Menschen' im Modus von 'Information' heißen kann. Mit 'Avatar' wird die bildliche Repräsentanz eines Benutzers in einer virtuellen Umgebung bezeichnet. Ein Avatar kann z.B. nur ein stilisiertes Handsymbol sein, das zum Navigieren in der Umgebung dient, es kann aber auch die Repräsentanz des Benutzers in Form einer ganzen, oft phantastischen Gestalt meinen. Der "medizinische Avatar", von dem Satava gesprochen hat, soll auf der Datenstruktur des "Visible Human" basieren. Weder soll bloß ein Modell für den 'Menschen' erzeugt werden, noch bloße Daten-Rekonstruktion von konkreten Individuen, sondern hier äußert sich ein noch weiterreichender Wunsch, wie folgende Aussagen Satavas belegen:
Ist das so? Daß man die gleiche 'Information' bekommt? Daß der medizinische Avatar die identische 'Information' des Patienten ist? In seinem Vortrag zum 'fünft-dimensionalen Menschen' sagte Satava abschließend, daß das große Ziel, das von vielen zusammenwirkenden Kräften angestrebt werde, die Erschaffung einer anderen Welt sei, die als Welt aus 'Information' neben unserer realen Welt existiere, "um Dinge zu tun, zu denen wir nie fähig waren."
Visioniert wird hier eine beständige, unermeßliche, allumfassende
Datenerhebung, die an eine Zentrale weitergeleitet werden soll. Datenströme
wie von den Schlachtfeldern der Zukunft, sollen auch aus dem Alltag eines
jeden, der an dies Healthcare-System angeschlossen wäre, in den Bau
der sich immer weiter vervollständigenden 'Informationswelt' fließen:
Die automatische Examinierung im zukünftigen Badezimmer wird durch Sensoren im WC gelöst (zur exkrementellen Untersuchung), im Spiegel (zur Augendiagnose) oder auch im Griff der Zahnbürste (zur Messung von Puls und Blutdruck). Anläßlich eines Videos, das einen aus dem Datenmaterial des "Visible Human" errechneten Bildkörper zeigte(36), erläuterte Satava:
'So werden Sie aussehen', das wäre die logische Fortsetzung dieses Gedankens. Denn in diesem euphorischen Sprachgestus ist eine Grenze überschritten. Die 'Informationswelt' und die 'reale' sind miteinander identifiziert. Entfallen ist dem Sprecher spätestens an dieser Stelle des Vortrags, daß die Daten des "Visible Human" von einem staatlich Hingerichtetem stammen, denn der digitale "Adam" wurde anhand des Leichnams eines zum Tode verurteilten Mörders erzeugt. Offenkundig ist insofern, daß der nicht mehr lebt, dem diese Daten einmal abgenommen wurden. Dies nun als Bild des 'Lebens' zu bezeichnen, um für eine zukünftige Welt einzutreten, in der 'Information' von Lebenden gleich wie von Toten kontrolliert wird, kann nur als Fehlleistung interpretiert werden. Und diese Fehlleistung steigerte sich in ergreifender Weise noch in der anschließenden Kommentierung des Videos. Satava appellierte an den Saal, indem er auf die Bilder einer 3dimensional rekonstruierten Hand des "Visible Human" deutete:
Die Fehlleistung, die ich als eine des medizinisch- militärischen
Komplexes bezeichnen möchte, kulminiert darin, die Hand eines Mörders, mit der Hand eines Chirurgen zu vergleichen vielleicht sogar seiner
eigenen Hand. Das kann keine Absicht sein, scheint mir, sondern eine Entgleisung,
ein unbemerkter Lapsus. Dennoch bleibt die erschreckende Botschaft selbst
die immergleiche. Der Universalbegriff der 'Information' überspringt die Grenze zwischen Lebendem und Totem, Repräsentation und Repräsentiertem, Avatar und Patient in einem absurden Gestus, der diese Grenzen selbst auslöschen will. Im Versprechen Satavas wird sogar unwillkürlich die Grenze zwischen Heilen und Töten überschritten, die es in der angekündigten Welt aus 'Information' folglich nicht mehr geben wird.
Geopfert wird hier nicht nur die Vorstellung eines 'Menschen', wie
wir ihn heute vielleicht 'noch' denken können, sondern auch die Möglichkeit, das, was 'Mensch' im Kontext einer medientechnologisch veränderten Zukunft heißen könnte, neu zu denken. Die "Bio(r)Evolution" wäre eine, die als Zukunft für "unsere Kinder" etwas versprechen zu können glaubt den Tod der Differenz, im Namen einer 'lebenden Information'. Denn exakt diese Figur einer offenkundigen Lüge ist es, die der militärisch-medizinische Komplex auf den Konferenzen vorexerzierte.
erschienen in:
Heidrun Kaupen-Haas, etal.,
Strategien der Gesunheitsökonomie,
Frankfurt 1998