Feminismus ist digital.

Auf- und Auszüge eines Vortrags (1)

Claudia Reiche

Digitale Reflexion
Virtuelle Zeitlupe, historisch
Digitaler Feminismus
Slime
"Beware of the Blob"
"Daughter of Horror"
Cyberfeminismus

 

Digitale Reflexion
 
Zwei Thesen möchte ich vertreten:
1. Die Geschlechtsdifferenz ist sichtbar.
2. Die Geschlechtsdifferenz ist unsichtbar.
Wenn beide als gültig behauptet werden sollen, dann ergibt sich etwas, das als Problem bezeichnet werden könnte, allerdings im logischen und nicht im tragischen Sinne. Sie sollen es und das wird Konsequenzen haben insbesondere für den Ort eines 'Weiblichen', wie ihn cyberfeministische Verfahren neu bestimmen können.
Wenn es Ihnen nichts ausmacht, komme ich zunächst zur ersten These und beginne mit einer Illustration der Sichtbarkeit der Geschlechtsdifferenz. Dazu gibt es nicht soviel zu sagen, sondern es soll eine bildliche Vorstellung angeregt werden, die die weiblichen und männlichen Geschlechtsorgane vor das innere Auge ruft. Wenn Sie jetzt bitte kurz Ihre Augen schließen und sich die Geschlechtsdifferenz einmal vorstellen wollen...
Bitte öffnen Sie Ihre Augen jetzt wieder.

So sieht es aus und scheint mir eine zeitgemäße Verbildlichung einer Differenz zu sein. Macht es der Status unserer Medientechnologie doch zugleich simpel und unmöglich zu beantworten, was ein Bild sei.
Die 'problematische' Antwort müßte lauten: Ein Bild, das sind Daten. Und woraus bestehen solche Daten? Aus 'reinen' Differenzen: nämlich die Unterbrechung eines Stromkreises oder das Fließen von Strom - 0 oder 1 - wie sie zugleich etwas Identifizierbares repräsentieren - zwei Informationen.
In bezug auf die Geschlechtsidentität, die sich auf der Grundlage von bildlichen Wahrnehmungen in einem konfliktreichen Prozeß gebildet haben wird, kann ebenfalls von solcher 'reinen' Differenz gesprochen werden. Jeweils ein vom eigenen Körperbild abweichendes Bild wird sich dem Kind präsentiert haben. Doch dabei gibt es einen Haken, und dieser Haken ist das Bild. Denn diese Differenz wird über den Blick in Form eines Bildes wahrgenommen worden sein. Bitte werfen Sie nochmals einen Blick auf die Abbildung!


Keine Gleichwertigkeit, wie sie durch die Darstellung zweier Ziffern suggeriert worden sein mag, kann es in einer Gesellschaft geben, in der die psychische Strukturierung über eine Privilegierung des Blicks und eine Privilegierung des männlichen Geschlechtsorgans sich herstellt. So wird denn auch nach der Geburt nachgeschaut, ob es denn da ist oder nicht, das männliche Organ: Ja oder Nein, bezogen auf ein bildliches Phänomen.
Es ist hoffentlich deutlich geworden, daß sich hier eine vielleicht unscheinbare, doch fundamentale Verschiebung vollzogen hat, insofern in dieser Perspektive die Ziffern bestimmten Geschlechtsidentitäten zugeordnet wären. Links die Frau, rechts der Mann. 0 und 1. Die Ziffern hätten so bestimmte Werte erhalten, wo nur mitzählt, was sichtbar wäre, und da wäre links in dieser Hinsicht eben nichts.
Die Frau zeichnet sich bezüglich der sichtbaren Geschlechtsdifferenz, wie sie die erste These behauptete, bereits durch eine doppelte Bestimmung aus. Zugleich identifizierbares Bild einer Geschlechtsidentität - 'das schöne Geschlecht' -  als auch konstituiert durch ein sichtbares Fehlen in diesem geschlechtlichen Bild, wäre das Bild ihres Körpers bereits durch etwas Unsichtbares bestimmt: etwas, das als Fehlendes identifiziert wird und so dem Bild ihrer Gestalt als Unsichtbares anhaftet. Sie bemerken es sicher bereits, daß hier nichts symmetrisch oder ausgewogen ist und daß wir bereits durch die Darstellung der weiblichen Seite tief in die Zone des Unsichtbaren vorgedrungen sind?
Nun, wie steht es sich mit dieser Unsichtbarkeit der Geschlechtsdifferenz? Persönlich scheint mir dies das interessantere Feld zu sein. Weil - wie ich schon sagte - es gibt da einen Haken und der Haken ist das Bild. Die gleiche Abbildung kann jetzt zur Illustration dieses Hakens und der zweiten These dienen, sie kann die Unsichtbarkeit der Geschlechtsdifferenz illustrieren.
Wir werden versuchen, eine Nahaufnahme dieses Problems zu erzielen, indem wir entschieden den Bereich der Signifikanten ansteuern, der in der Lage zu sein scheint, die aufregende Vielfalt halluzinatorischer Bilder für unser Bewußtsein zu erzeugen.
Denn unsichtbar in der Abbildung der großen 0 und 1 wird ausgerechnet die Repräsentation der so genannten 'reinen Differenz' gewesen sein, die allerdings im Bereich der Signifikanten das Bild bestimmt. Gerade hier braucht es zwei Terme, um eine Differenz zu erzeugen, erinnern wir uns nur an die bekannte Formulierung aus Ferdinand de Saussures "Cours de linguistique générale" zur Charakterisierung der Signifikanten:
"Ihre genaueste Eigenschaft liegt darin, etwas zu sein, was die anderen nicht sind."(2)
Das heißt: Die Differenzialität bestimmt den Signifikanten. Und: Eine Differenz kann nicht als sie selbst existieren. Eine Differenz hat kein Selbst. Keine Identität.
Womöglich befindet sich diese Betrachtungsweise in Widerspruch zu der allgemeinen - auch mancherots als feministisch bezeichneten - Auffassung, daß es möglich sein müsse, die weibliche Geschlechtsidentität sowie die Geschlechtsdifferenz zu sehen, die doch erst eine Frau zur Frau macht? Ein neues Wahrnehmungsexperiment schafft hier Klarheit. Wir werden es noch einmal versuchen. Bitte beachten Sie jetzt die zweite Abbildung.

Hier wurden die beiden Identitäten entfernt, um die 'reine' Differenz hervortreten zu lassen. Aber ich denke, daß dies nicht wirklich gelingen kann. Beim Versuch dies Bild als Anzeiger einer Abwesenheit zu akzeptieren, insofern als 'Nicht- Bild', werden wir wohl kaum umhinkönnen, einen Rahmen zu sehen, der ein helles hochformatiges Feld abgrenzt - besonders deutlich bei einer Dia-Projektion - gegenüber der dunkleren Umgebung. Es hilft nichts, auch dies ist ein Bild, keine Differenz.

0 1 Wenn wir nun wieder zur ersten Abbildung zurückkehren, um zu versuchen auf den kritischen Fleck des Bildes zu starren, der sich wohl in recht schwer zu definierender Gestalt zwischen den Ziffern 0 und 1 befinden müßte, wird solche mit den Augen gesuchte Differenz auch nicht tatsächlich 'selbst' sichtbar werden können. Das ist auch nicht weiter erstaunlich, hätten wir doch beansprucht das zu sehen, was den Prozeß der Signifikation ermöglicht. Ist es nötig nochmals zu betonen, daß es wohl nichts Unsichtbareres gibt als einen Signifikanten? Um nach der Referenz auf Ferdinand de Saussure auch Jacques Lacan zu referieren, der Saussure so buchstäblich las, daß die Sprache, " la langue", nicht aus Ideen, sondern aus Differenzen zwischen ihren Elementen, den Signifikanten besteht, so kann zweifellos behauptet werden, daß es Differenzen seien, die ebenso die Struktur der Sprache wie des Unbewußten artikulieren. Der Anspruch das Bild einer Differenz sehen zu wollen, hieße nichts weniger als unmögliche Bild des Unbewußten, die Wahrnehmung selbst sehen zu wollen.

Die erwähnte Privilegierung des Blicks stellt eben auch unser theoretisches, visuelles Vorstellungsvermögen als bildhaftes her. So würde der unmögliche Schauwunsch nach der unsichtbaren Geschlechtsdifferenz verständlich. Unserem Blick scheint notwendig etwas entgehen zu müssen. Folgt man den Ausführungen Lacans zum sogenannten Spiegelstadium,(3) so muß es eine wesentliche Blindheit sein, die unsere Bildwahrnehmung und als deren Effekt die psychischen Instanzen hervorbringt. Blind werden wir für den Unterschied zwischen dem Bild, das ein Spiegel zeigen kann und uns 'selbst' gewesen sein, wo wir doch an dieser Stelle erst aufgrund der Wirkungen eines Bildes als 'Selbst' entstanden sein werden.
Durch diese Verwechslung hätte allererst diejenige imaginäre Identifikation eines Signifikanten und eines Signifikats stattgefunden, die die Wahrnehmung allererst formt, und zwar als eine notwendige Verkennungsstruktur. Sollten wir deshalb blind für die unsichtbare Geschlechtsdifferenz zwischen der 0 und der 1 sein, weil wir immer Bilder und somit anderes sehen?

Es stellt sich jetzt also so dar, daß ein Signifikant immer unsichtbar sein muß, da er erst in der Position eines Signifikats, und das heißt immer erst im Bild wahrgenommen werden kann. Die gängige Verwechslung des Bildes eines Penis mit dem Signifikanten Phallus erscheint unausweichlich, insofern sie der imaginären Verkennung entspricht, die die psychische Strukturierung einleitet.
Das Unsichtbare an der Geschlechtsdifferenz wäre somit der Phallus, - als "Signifikant, der bestimmt ist, die Signifikatswirkungen in ihrer Gesamtheit zu bezeichnen"(4), wie es in "Die Bedeutung des Phallus" heißt.
Wie ist es denn nun möglich, daß das Bild der 'Frau', das an ihre sichtbare 'Mangelhaftigkeit' erinnert, ja durchaus nicht als mangelhaft, sondern als Bild der Schönheit, geradezu als Bild aller Bilder gilt? Ihr Bild muß wohl noch ein zusätzliches Unsichtbares zeigen als nur das Fehlen von Körperteilen. Es bleibt dabei, das Bild der 'Frau' scheint einer doppelten Strukturierung zu unterliegen. Es kann sich hier nur um eine Täuschung, einen Trick handeln. Ihr Bild müßte ja, um erotische Anziehung auszuüben, in einem Zuge eine personale 'Identität' zeigen, als auch das Unsichtbare an der Geschlechtsdifferenz selbst verkörpern - und die ohne im Besitz des privilegierten männlichen Organs zu sein.
Ihrem Bild müßte das logische Paradoxon zukommen, gleichzeitig Bild und Differenz zwischen zwei Bildern, also 'Nicht-Bild' zu sein.

 

Virtuelle Zeitlupe, historisch
 
Um diesen Zusammenhang darstellbar, und das heißt bildlich vorstellbar zu machen, soll nun die Funktionsweise einer technisch hergestellten bildlichen Täuschung modellhaft zitiert werden, die vor über hundert Jahren als erfunden galt. Diese Maschine in Bewegung bietet ein technisches Modell, nicht nur zur Veranschaulichung unseres Fragezusammenhangs, sondern auch für die Struktur des Unbewußten. Hier läge auch meine Rechtfertigung für die Bezugnahme auf eine Medientechnik, die schon fast ein Vergangenes darstellt: Sie werden bemerken, daß von der bildlichen Anschaulichkeit der mechanischen, bewegten Teile, nichts weiter als eine Struktur von Differenzen übrigbleiben wird, und zwar durch das Verfahren, mit dem dieser Vergleich durchgeführt wird. Der Weg von flackerndem Projektionslicht der alten Projektoren, das in höherer Geschwindigkeit und Präzision noch von jedem Fernseher oder Computermonitor nachgeahmt wird, zu den binär codierten Datenströmen des digitalen Mediums wird in theoretischer Lichtgeschwindigkeit zu bewältigen sein.
Doch zunächst: Es ist der Film eine mediale Täuschung, die auf einer nicht sichtbaren Differenz zwischen zwei aufeinanderfolgenden, minimal unterschiedenen Bildern beruht, als Mechanismus einer Bewegungshalluzination.
Wenn nämlich in der visuellen Wahrnehmung der Eindruck sich bewegender Gestalten auf der Leinwand hervorgerufen wird, dann wird etwas gesehen, das nicht da ist.
Eine schematische Darstellung eines Filmstreifens kann jetzt an die Stelle des Bildes von der 0 und der 1 gesetzt werden, wo wir bisher die unsichtbare Geschlechtsdifferenz zu sehen uns bemühten.
0 1 Eine Bewegungstäuschung, die das Heben oder Senken eines Arms zeigte, ist nun beim besten Willen nicht zu erblicken. Jedoch lassen die Perforationslöcher an beiden Seiten des angedeuteten Filmstreifens die Form der Maschine ablesen, die die Folge der schnell hintereinander projizierten, ruckartig stillgestellten Bilder bewerkstelligt. Die Geschwindigkeit dieser Projektion überholt die physiologische Leistungsfähigkeit der visuellen Wahrnehmung. Was zwischen den stillgestellten Einzelbildern geschieht, muß beim angeschauten, projizierten Film stets unsichtbar bleiben. Zwischen den Einzelbildern dürfte ja eigentlich zu Recht die 'Bewegung' vermutet werden. Schaut man sich jedoch einmal in Ruhe an, was zwischen den Bildern zu sehen wäre, so läßt sich schnell feststellen: Nichts da. Eine Bewegung auf keinen Fall. Oder vielmehr, fast nichts, nur immer derselbe schwarze Balken, der wie ein schwarzer Balken auf pornographischen Darstellungen einen Schauwunsch zugleich zu enttäuschen und lebendig zu halten scheint. Dieser wiederholte schwarze Balken stellt bei solchem Anblick des Filmstreifens eine Grenze und eine Unterbrechung zwischen zwei minimal verschiedenen Bildern dar.

Es stellt sich somit wieder ein Problem, das wir schon eben hatten, als versucht wurde, die Differenz zwischen 0 und 1 selbst zu sehen. Doch durch die hier inszenierte Wiederholung einer Unsichtbarkeit läßt sich etwas Neues darstellen.
Sie entspräche die Wiederholung unserer Wahrnehmungsstruktur durch die Medientechnik des Films. Diese wiederholt notwendig Strukturen des "psychischen Apparats", wie ihn Sigmund Freud nannte, und der eben nur in technischen Metaphern einer sekundären Verbildlichung allererst darstellbar und analysierbar ist.
Insofern die kleinen schwarzen Balken, auch Bildstrich genannt, analysierbare Bestandteile einer funktionierenden Medientechnik, eines wirksamen physiologischen und psychischen Täuschungsmechanismus sind, zeigen sie nun tatsächlich ein Modell desjenigen, was wir als Lücke der Wahrnehmung, als Unbewußtes selbst, bereits zwischen der 0 und der 1 sehen wollten.
Diese schwarzen Balken brächten somit das unmögliche Bild eines Signifikanten, des Phallus, zur Sichtbarkeit, als der zugleich das Bild einer 'Frau' fungieren muß, um erotisch wirksam zu sein.
Wo wäre in diesem soeben inszenierten theoretischen Trickfilm also die Frau zu finden? Sie wird sich in einer Zone der Abbildung lokalisieren lassen, auf die unserer Augen schon zweimal vergeblich gerichtet waren, indem versucht wurde das unmögliche Bild einer Differenz zu sehen. Hier - in dieser unmöglichen, artifiziellen Zone zeigt sich plötzlich die 'Frau': im schwindenden Schnittpunkt einer Kreuzung einer gedachten Horizontalen und einer Vertikalen, repräsentiert durch den symbolischen Filmstreifen.
Wer jetzt nach dem Bild des 'Mannes' fragte, und zwar danach, wie in diesem Trickfilm sich wohl das ja vermeintlich so eindeutige Bild einer männlichen Geschlechtsidentität präsentieren müßte, erhielte eine sonderbare Antwort.
Ebenfalls auf der Grundlage der gleichen Täuschung hervorgebracht, die jetzt den Besitz des Phallus aufgrund der anatomischen Bilder vortäuschen muß, stellt sich doch in Anbetracht der erotischen Anziehungskraft seines Bildes die merkwürdige Konsequenz ein, daß, wie Jacques Lacan in "Die Bedeutung des Phallus" schreibt, "beim Menschen die männliche Parade selbst als weiblich erscheint."(5)
So hat sich jetzt in diesem Modell eines Trickfilms noch das Bild eines kleinen Männchens in die Darstellung eines Unsichtbaren verwandelt: es wird zum Bild einer 'Frau', die Inszenierung einer Differenz, als Darstellung eines Unsichtbaren wird in Zeitlupe vorgeführt.
Der Unterschied zwischen einem erhobenen oder nicht erhobenen Zeigefinger (lat. digitus) ist von dieser Perspektive aus irrelevant geworden. 0 oder 1.

 

Digitaler Feminismus
 
Jetzt heißt es, auf die Ankündigung zurückzukommen, eine derart künstliche Kinematographie auf das Konzept eines digitalen Feminismus zu beziehen. Dies wird kaum noch schwerfallen, denn - wie ich glaube bereits gezeigt zu haben - Feminismus ist digital, muß digital sein und wird es stets gewesen sein. Wie, 'Feminismus'? Soll es denn um 'Feminismus' gegangen sein? Ja, denn notwendig ist die Konstruktion einer 'Sie', in doppeltem Sinne 'Subjekt' des 'Feminismus', als Entwicklung von Unterscheidungsvermögen, das ermölicht, die männlich determinierten Bilder und Zuschreibungen einer 'Sie' zu entziffern und neu zu schreiben. Wie hier, zum Beispiel auf dem Terrain von Psychoanalyse und Medientheorie.
Den unmittelbaren Bezug auf eine cyberfeministische Position stellt ein Zitat aus Sadie Plants Artikel her "The Future Looms: Weaving Women and Cybernetics".(6)
Ich denke, daß sich hier unmittelbar eine Differenz ablesen läßt zu dem Versuch, den ich gerade unternommen habe, eine 'Sie' als doppelt determinierte differentielle Struktur wahrnehmbar zu machen. Wie geht nun Sadie Plant die 'Differenz' an, wie konstelliert sie eine sehr ähnliche Konstellation von Begriffen auf der Bühne ihres Textes?

Sadie Plants Herantasten an die Differenz - etwa die Differenz zwischen den ebenfalls erwähnten Nullen und Einsen der digitalen Codierung, scheint deutlich die Differenz mit dem Wert 0 zu identifizieren. Es fehlt etwas. 0, ist das: ein Mangel? In Ihren Worten "the void, the gap, or the absence", die Leere, die Lücke, die Abwesenheit. Folgt die Logik dieses zitierten Textabschnitts unwillkürlich der patriarchalen Position und akzeptiert wiederholend den Vorrang der 1?
In ihrer Beschreibung der weiblichen Seite, die historische Gültigkeit reklamiert, ist die 0 in den letzten 50 Jahren bereits verschwunden, ist in die andere Ziffer hineingewandert im Zuge der wachsenden Allianz von Frauen und Computern. Jedoch, ist das nicht zu ahnen im Duktus dieses Textes, die Konsequenz dieses Manövers ist ein neu entstehender Mangel. Es wird nötig werden eine Ersatz-Differenz in die Konzeption hineinzunehmen. Und wie könnte es anders sein, flugs stellt sich die Vorstellung einer kleinen und einer großen 1 ein. Die große 1, die steht offensichtlich für die heutige 'Frau', die eine Überlegenheit ausübt mit der von ihr angeeigneten Erweiterung und Prothese der Computertechnologie und der Kommunikationsleitungen: wie Superman über Fähigkeiten verfügend, "mit denen etwas (es) zerschlagen, bzw. gehackt werden kann".(with which to hack it down") Was meint dieses "It"? 'It', die Kriegsmaschinerie? 'It', der 'Er'? Die '1'? Das Männliche überbieten zu wollen und ein Konzept von Präsenz und Identität auf Kosten der Absenz hymnisch zu beschwören, bedeutet aus meiner Perspektive (auf die 'Differenz') einen notwendigen Circulus vitiosus. Oder anders - mit den Worten von Sadie Plant gesagt, eine Wiederkehr des Verdrängten. Was wird ihrer Strategie wie ein "unerlöster Geist" (in Sigmund Freuds Worten) wiederkehren? Es wird notwendigerweise die Differenz zwischen einer Absenz und einer Differenz sein, die sich nicht verdrängen lassen wird. Denn, wäre es nicht gerade diese Differenz, als die der Phallus bei Lacan entziffert wurde?
Wahrscheinlich ist die hier angewandte Technik der Repräsentation mehr als bekannt, als eine Art von Beschwörung, ein Genre phallischer Identifizierung in kompensierenden Tagträumen einer Allmacht. Und bekannt, z.B. aus Filmen, dürfte die Technik sein, abstrakte Begriffe zu personifizieren und zu verbildlichen. Sehen Sie nicht die Heldin, wie sie die bösen Kriegstechnologien hackt und besiegt? Gejagt von alten Polizeiwagen, aber mit ihrem virtuellen Wunder-Wagen, der schneller, größer und stärker ist als jedes andere Gefährt, jeder Gefahr entkommend...
Auf theoretischer Ebene wäre die Textpassage von Sadie Plant so etwas wie ein Zeichentrickfilm, der sich als Dokumentarfilm ausgibt. Im Unterschied dazu könnte der vorab inszenierte und in diesem Text "theoretische Trickfilm" von einer 0, einer 1 und einen Filmstreifen sich womöglich sich größerer dokumentarischer Qualitäten rühmen.

 

Slime
 
Persönlich bevorzuge ich Filme ohne Happy-End. Weil diese vielleicht noch weiter tragen können als bis zum Ende der Filmspule. Ein Happy-End, das bedeutet, das der Film in einer kunstfertig inszenierten "Erfüllung" nichts anderes mehr kann, als zu enden. Ein Film mit einem melodramatisch tragischen Ende kann demgegenüber einen derartigen Widerstand wecken, daß Gegenentwürfe zur Handlungsführung mobilisiert werden, daß weitergehend ausprobiert wird, den Film auf diese oder jene Weise weiterzuführen, bzw. anders enden zu lassen. Ich denke hierbei an einen kurzen Dialog aus "Glen or Glenda", den unvergeßlichen Film von Ed Wood aus dem Jahr 1953, mit dem expliziteren Untertitel "I changed my sex."
Die Antwort auf die Eröffnung: "I guess I have a problem, I mean a real problem I never had to face before..." lautet hier nämlich: "Our whole existence is one big problem after the other." Dabei wird dies in einem so herzergreifend leutseligen Tonfall, abgrundtief 'schlecht' gesprochen, daß es haften bleiben und wiederkehren kann: als Widerständigkeit, oder jetzt emphatisch gesprochen: als Differenz.
Von höchstem Interesse für diese Fragestellung sind - bezogen auf die Geschlechtlichkeit - Horrorfilme. Ich liebe sie, seit ich verstanden habe, daß sie alle zum Thema 'Kastration' (und das hieße zur 'Geschlechtsdifferenz') arbeiten, und die realen Ÿngste artikulieren vor etwas, das als 'Frau' gesehen wird.
Darum möchte ich mich auf einige Szenen aus dem US Science Fiction Film von 1958 beziehen "The Blob", Regie Irvin S. Yeaworth jr. Als Vergrößerungsglas, um ein klassisches Motiv cyberfeministischer Literatur und Theorie aus seinem Kontext zu isolieren und genauer erforschen zu können. Welches hier gemeint ist, das können einige beispielgebende Zeilen aus dem "Bitch Mutant Manifest" von VNS Matrix verdeutlichen: "The clitoris is the direct line to the matrix - VNS Matrix." und "VNS Matrix terminators of the moral code, mercenaries of slime, go down on the altar of abjektion."
Was kann es mit diesem "Slime" auf sich haben, den die virtuellen 'bad girls' in fast erschreckendem Ausmaß zu produzieren in der Lage zu sein scheinen, die, Sie wissen schon was, immer können. Gerade diese Frage fand ich in dem Film namens "The Blob" beantwortet.

 

"Beware of the Blob"
 
Eine typische kurze Beschreibung dieses Films aus der "Leonard Maltin Review" lautet "Endearingly campy classic of cheap 50s sci-fi has 'Steven' (Steve McQueen) in his first starring role) leading teenagers to a battle to save their small town from being swallowed up by a giant glop of cherry Jell-O from outer space. Not really all that good, but how can you hate a film like this?"
 Leider wird hier das zentrale Subjekt des Films verfehlt, meines Erachtens eben die 'Geschlechtsdifferenz', denn die Titelrolle ist doch wohl dem sonderbaren 'Blob' gegeben und nicht Steve McQueen. Bereits die Worte des Titelsongs führen auf die richtige Spur: "Beware of the blob. it creeps and leaps and climbs and slides across the floor and through the door and all around the wall. As much a splotch - be careful of the blob." Klingt das nicht lustig und zugleich wie eine Attacke auf die Identität selbst? "Beware", 'Bewahre' mich, meine Grenzen werden aufgesogen, meine Haut wird durchlässig, von einer großen lebendigen, amorphen Masse von "Slime" werde ich aufgenommen und verdaut, bis von 'mir' nichts mehr übriggeblieben sein wird.
Der Film läßt hier präziserweise gar keine Zweifel aufkommen: die Befürchtungen und Gefahren haben mit dem Geschlechtlichen, dem Sex zu tun. In dokumentarischer Genauigkeit: im Sinne der 50er Jahre: 'unterdrückt', jedoch aus dem Weltall wiederkehrend - als Bedrohung für die ganze Menschheit, in der unästhetisch spektakulären Erscheinung des 'Blob'. Unschwer ist solcher 'Blob' als das alter ego der weiblichen, farblosen Hauptrolle, dem guten Mädchen auszumachen. Hoch bauscht sich ihr Petticoat und gibt den Blick auch unter den Rock frei, als sie vom männlichen Helden aus der Gefahrenzone des 'Blob' getragen wird. Visuell scheint hier kurz eine Verbindung auf zwischen den aufspringenden, blickverwirrenden Tüllschichten und dem anschwellenden rötlichen 'Blob'. Narrativ motiviert sich die Szene in der Weise, daß ihr vor Entsetzen die Beine den Dienst versagen und sie hilflos ihrer anstehenden Überwältigung durch den 'Blob' entgegenstarrt, womöglich wie dem verfemtesten Teil ihres Spiegelbildes. Es fallen im übrigen fast alle Frauen angesichts des 'Blobs' auf diese hilflos erwartende Art zu Boden. Eine sonderbare Verbindung wird hier ausgespielt, die den mörderischen 'Blob' mit dem weiblichen Geschlecht zu verbinden scheint. in diesem Zusammenhang gewinnt  eine andere Schlüsselszene des Films an Bedeutung. Denn der Ort der furchtbarsten Verschlingung durch den 'Blob', die Szene, in der die meisten Menschen sterben, spielt sich am privilegierten Ort des Blicks ab, dem Kino. Der enorme 'Blob' kann ausgehend vom Projektionsraum durch enge Lüftungsschlitze in den vollbesetzten Kinosaal als amorphe Masse hineinquellen, nachdem er den Filmprojektor und Projektionisten überwunden und vernichtet  und so den Film unterbrochen hat. Welcher Film wurde zu solch furchtbarer Bewußtmachung der medialen Grundlage erlebter Wirklichkeit unterbrochen? Auf der leuchtenden Ankündigungstafel an der Außenfront des Kinos war zu lesen: "Midnight Spooky Show: Daughter of Horror - with Bela Lugosi".

 

'Daughter of Horror'
 
Ein Film im Film wird inszeniert, ein Film dessen Titel ich in keinem Filmlexikon finden konnte. Jedoch bei einiger Konzentration auf den nicht-fiktionalen Anteil der Angaben, den Namen des derzeit bereits seit zwei Jahren verstorbenen Schauspielers Bela Lugosi, erschien nur einer seiner Filme der Verbindung zu einer "daughter of horror", einer expliziten Bezugnahme auf die Geschlechtsdifferenz gewachsen zu sein, nämlich der bereits erwähnte Ed Wood Film "Glen or Glenda". Stilistisch entspricht "Gen or Glenda" deutlich den Kinoszenen, die im zu Tode erschreckenden Kino des 'Blob' zu sehen gegeben werden.
Ein geschickt angespielter, und ebenso verführerisch verborgener Subtext des Films "The Blob" wird in einigen Standbildern nebeneinander gestellt, die Verbindungslinien zwischen den beiden Filmen ziehen und umso mehr dazu auffordern beide Filme anzuschauen und hinsichtlich der Visualisierung der Geschlechtsdifferenz zu untersuchen.

Stills aus
The Blob
Stills aus
Glen or Glenda
BLOB

 

Cyberfeminismus
 
Womöglich wäre dann am Schnittpunkt dieser beiden Filme so etwas wie 'Slime' zu sehen, eine virtuelle Substanz, ganz wie der 'Cyberfeminismus'. Eine sonderbare Existenz kann durch die Kreuzung dieser filmischen Artikulationen ins Leben gerufen werden, als Kreuzung dieses unsterblichen 'Blob' und der geschlechtlichen Grenzüberschreitung eines 'Glen/Glenda'. Solche Existenz möchte ich für "das Geschlecht, das nicht eins ist" reklamieren, "ce sexe qui n'est pas un".(8)
Eine paradoxale 'Sie' - in dem Raum zwischen Worten und Bildern - könnte zugleich die Geschlechtsdifferenz selbst als auch eines dieser Geschlechter sein, die die Differenz formen. Hier hilft die Vorstellung von Kurzschlüssen weiter, wie sie eine paradoxale 'Sie' -  der 'Blob' - verursachen würde, wenn sie in die Schaltkreise einer Logik eindringt, die auf den Prinzipien von Identität und Präsenz basiert.
Wenn es nach mir ginge, wäre genau dies: Cyberfeminismus.

 




ad 1) 21.9.97, '1st Cyberfeminist International', dx, Orangerie, Kassel, siehe: http://www.obn.org. >>
ad 2) Ferdinand de Saussure, Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft, Berlin 1967, S. 139-140. >>
ad 3) Jacques Lacan, Schriften I, Olten 1973, Das Spiegelstadium als Bildner der Ich-Funktion, wie sie uns in der psychoanalytischen Erfahrung erscheint, S. 61-71. >>
ad 4) Jacques Lacan, Schriften II, Olten 1975, S. 126. >>
ad 5) Ebenda, S. 132. >>
ad 6)Sadie Plant, The Future Looms: Weaving Women and Cybernetics, in: Clicking in: hot links to a digital culture, hrsg. von Lynn Hershman Leeson, Seattle 1996, S. 123-135. >>
ad 7) Ebenda, S.134. >>
ad 8) Luce Irigaray, Ce sexe qui n'est pas un, Paris 1975.>>
 

erschienen in:
Institut für moderne Kunst Nürnberg (Hrsg.),
netz.kunst, Jahrbuch '98 '99,
Nürnberg 1999, S. 198-209