Schriftbild Abb. 1: Kino-Theater 1903, "Neueste Filme. Beste Apparate"
Noch ein Blick auf die photographierte Schrift: "Das lebende Bild". Was kann das sein? |
Tableau vivant
Photographie
Unter den unzähligen Gebärden des Schaltens, Einwerfens, Abdrückens usf. wurde das 'Knipsen' des Photographen besonders folgenreich. Ein Fingerdruck genügte, um ein Ereignis für eine unbegrenzte Zeit festzuhalten. Der Apparat erteilte dem Augenblick sozusagen einen posthumen Chock. [4]Mit Sigmund Freud, insbesondere dessen Aufsatz "Jenseits des Lustprinzips", entwirft Benjamin diesen Chock als starke Reizwirkung auf Bereiche des Nervensystems, die im Moment des auslösenden Ereignisses schutzlos gewesen sind. Wenn nun der Chock als "Hinterlassung einer Gedächtnisspur" in einem kurzfristig ungeschützten, sensiblen System funktioniert, so fällt als ein allgemeiner Topos der Vergleich mit dem Vorgang der photographischen Belichtung ein, dem kurzen Auslösen des schützenden Blendenverschlusses, in dem das photosensible Material dem Licht ausgesetzt wird. Benjamin wählt eine Formulierung aus Freuds "Jenseits des Lustprinzips", die diesen Vergleich tatsächlich nahelegt. Freud stellt die Rindenschicht des Gehirns, in dem er die Funktion des Bewußtseins lokalisiert, als eine "Rinde" dar, "die ... durch die Reizwirkung so durchgeannt ist, daß sie der Reizaufnahme die günstigsten Verhältnisse entgegenbringt." [5] "Durchbrennen" können elektrische Leitungen bei einem Kurzschluß unter Entwicklung von Wärme und Lichtfunken. Die Logik des technischen Vergleichs legt nahe, daß im Moment eines Chocks die elektrischen Potentiale der Nervenreize das reizaufnehmende, schützende Bewußtsein selbst durchdringen, um ihre Spuren in das Gedächtnis wie in eine photographische Platte einzuschreiben. Denn: Die Grundformel dieser Hypothese ist, 'daß Bewußtwerden und die Hinterlassung einer Gedächtnisspur für dasselbe System miteinander unverträglich sind'. Erinnerungsreste sind vielmehr 'oft am stärksten und haltbarsten, wenn der sie zurücklassende Vorgang niemals zum Bewußtsein gekommen ist'. [6]Benjamins "posthumer Chock", den der Photoapparat "dem Augenblick" erteilte, stellt zudem eine Vergleichbarkeit in Hinblick auf die zeitliche Struktur von Chock und photographischer Momentaufnahme her. Als beiden gemeinsam erweist sich eine spezifische Form von Nachträglichkeit. Es sind in beiden Fällen wiederholte, langfristige Effekte einer kurzen, prägenden Einwirkung, die selbst nicht unmittelbar zugänglich ist. Die wiederkehrenden, traumatischen Folgen eines Chocks können mit den vervielfältigten, wiederholten Abzügen eines photographischen Negativs verglichen werden. Und das hieße, daß entgegen geläufiger Überzeugung die Erinnerung an einen bestimmten Moment, die von einem Photo erwartet wird, ebenso unmöglich ist wie die Erinnerung an das, was eine Gedächtnisspur hinterließ. Denn das, was zum Bewußtsein kommt, ist etwas anderes, mögliches Zeichen für eine NichtÜbereinstimmung von Gedächtnisspur und bewußter Erinnerung. Das abseitige Genre der Geisterphotographie ist unter diesem Blickwinkel als Reflex des skizzierten Verhältnisses zwischen psychischem und photographischem Apparat anzusehen, als Inszenierung und Bebilderung einer unmöglichen Präsenz in phototechnischer und organischer Gedächtnisfunktion. Stellvertretend und auf photographischem Wege aus der Zeit herausgelöst wurden künstliche, gestellte 'Präsenzen': all jene Wiedergänger, Phantome, Geister und Gespenster, die sich "posthum" und medientechnisch neu beheimatet fanden in den Zwischenräumen von Vergangenheit und Zukunft, zwischen Einmaligkeit und Vervielfältigung, zwischen Leben und Tod. [7] Wenn die 'lebenden Bilder' nun in ihren bewegungslosen, stumm dargebotenen Posen eine Ähnlichkeit zur Photographie aufweisen, so betrifft der Vergleich gerade diese Zwischenräume. Angehalten wird für die Dauer einer Pose, eines 'Bildes', in einer suspendierten Zeit die |