P I X E L 

Erfahrungen mit den Bildelementen

Achtung: neue Probleme beim digitalen Signalprocessing!

Claudia Reiche

Die Betrachtung eines Problems
Das Verschwinden des "Bildes"
Groß auf  P I X E L 
Das "Virtual Retinal Display"
Der Glaube an das "Bild"
Lebende Bilder?
Das "Virtual Scientific Display"
Anmerkungen

Die disziplinübergreifende Forschung im Bereich computererzeugter Visualisierung, insbesondere der virtuellen Realität, wird größtenteils ohne eine ausreichende Berücksichtigung psychoanalytischer Wahrnehmungstheorie betrieben - mit dem Risiko, hier grundlegende theoretische Erfindungen für die Entwicklung neuer visueller Artikulationsformen zu vernachlässigen. Besonders auf dem Gebiet medizinischer Visualisierung mit Anwendungen am Menschen wird diese Problematik konkret. Der folgende Text versucht, eine Visualisierung der Elemente bildlicher Wahrnehmung für diesen Zusammenhang zu entwickeln, und zwar unmittelbar als eine Arbeit der Worte und der Bilder, indem  P I X E L  (1) zur Darstellung gebracht werden sollen.(2)

Zunächst: Was ist ein  P I X E L  ? Entstanden gegen Ende der 60er Jahre, verbindet der Terminus die Worte "picture" in der pluralen und umgangssprachlichen Form "pix" und "element", abgekürzt zu "el". Diese "Bildelemente" bezeichnen in der digitalen Bildbearbeitung "die kleinsten Elemente eines Bildes, die individuell bearbeitet werden können".(3) Das heißt,  P I X E L  sind Bildelemente, die als Bildteilchen aufgefaßt werden. Aber wer weiß, wie diese kleinen Bestandteile aussehen? Schon diese einfache Frage führt bei genauerem Hinsehen auf grundlegende epistemologische Probleme hin und kann hier einen geeigneten Einstieg in das Thema bieten.

 

Die Betrachtung eines Problems >>
 
 P I X E L  formuliert die Frage historisch. Wie können die Spuren entziffert werden, die sich im Übergang von analogen Aufzeichnungstechniken zu digitalem Signalprocessing in kulturellen und wissenschaftlichen Diskursen bereits eingeschrieben haben?

Wie ist die potentiell unbegrenzte Variabilität der Visalisierungen, die aus einer Datenstruktur erzeugt werden können und die je gleiche Gültigkeit beanspruchen, zu einem analog erzeugten Bild in Beziehung zu setzen?  P I X E L  versucht diesen Entwicklungen auf theoretischer Ebene gerecht zu werden, indem weiterhin die materialen medientechnischen Erzeugnisse, die Bilder, betrachtet werden. (Vergleiche Abbildungen 1.1 und 1.2)

Abb. 1.1 Abb 1.2
Abbildung 1.1 Abbildung 1.2

Das Problem ist das Bild, und das heißt: Sie können nicht mehr sicher sein, ein "Bild" anzuschauen, wenn Sie Ihren Blick auf etwas richten, das so aussieht wie ein "Bild". Denn die Datenvisualisierung, wie sie auf dem Computermonitor erscheint, zeichnet sich durch eine Variabilität aus, die als konstitutiv und nicht bloß additiv für diese Art der Bilderzeugung zu bezeichnen ist. In immer neuen Variationen kann das Datenmaterial visualisiert werden. Diese Variabilität markiert einen grundsätzlichen Wandel der Bildlichkeit. Im Gegensatz zu klassischen Bildmedien wie Photographie und Film ist beim computererzeugten Bild die bildliche Aufzeichnung nicht mehr invariabel in einen Träger, das Negativ, eingebettet, sondern stets "fließend". Nicht erst in einem zweiten Schritt, ausgehend vom fixierten Negativ, sondern zu jedem Zeitpunkt können beim digital gespeicherten "Bild" Veränderungen vorgenommen werden, das insofern die Bestimmung eines "originalen" Zustands nicht ermöglicht. Aufzeichnungszustand und eine nachträgliche Veränderung, die im photographischen Prozeß noch unterschieden werden können, fallen beim digital gespeicheten "Bild" zusammen.

Als Resultat dieser technischen und ästhetischen Neuheit sind aktuelle Veränderungen "des Bildes" in wahrnehmungs- und erkenntnistheoretischer Hinsicht zu formulieren. Technisch bedingt ist die logische Ununterscheidbarkeit von computergenerierter Bildlichkeit hinsichtlich "originalen" oder "manipulierten" Teilen, spezifischen Daten oder Datenstrukturen der bildverarbeitenden Programme. Dieser Ausfall eines materiellen Originals beim computererzeugten "Bild" hat eine neue Beziehung auf das Referenzobjekt der Abbildung zur Folge, das durch die Algorithmen des angewandten Computerprogramms mit der "Abbildung" in neuartiger Verbindung steht. In wissenschaftlicher Hinsicht heißt dies nichts weniger als die technisch ausgelöste Neubestimmung dessen, was herkömmlich als "Fiktion" oder als "Dokument" bezeichnet wird. Nicht mehr als logische Opposition, gebildet auf der Grundlage sichtbarer Ähnlichkeit oder Unähnlichkeit zum Abgebildeten, sondern als etwas anderes wird sich das Verhältnis der beiden Terme entwickeln. Es heißt, neue Relationen zwischen sichtbarer Bildlichkeit und unsichtbaren Produktionsmodi zu formulieren und zu berücksichtigen, gerade weil diese Relationen dazu tendieren, aus der theoretischen Aufmerksamkeit zu verschwinden. Die These ist: Sie werden einfach übersehen. (Vergleiche Abbildungen 2.1 und 2.2)

Abb. 2.1 Abb. 2.2
Abbildung 2.1 Abbildung 2.2

Bereits die Habitualisierung des Mouse-Klicks transformiert die Idee dessen, was ein "Bild" sei, und läßt den Zugriff auf die aktivierte Datenstruktur als essentielles Merkmal des "Bildes" selbst wahrnehmen.Das computererzeugte "Bild" bietet sich dem Benutzer als bewegte, wandelbare Oberfläche dar, Interface einer Datenstruktur, die selbst nicht bildlich erscheinen kann, auch wenn die Leichtigkeit und Schnelligkeit der ausgelösten bildlichen Veränderungen den Eindruck erwecken mag, als handle es sich dabei um einen sichtbaren Zugang zu dieser Struktur selbst.

 

Das Verschwinden des "Bildes" >>
 
Trotz einer allgegenwärtigen, unaufhörlichen "Bilderflut", die durch Computer generiert wird, geht  P I X E L  der Annahme nach, ob in diesem Zusammenhang nicht vielmehr von einem Verschwinden des "Bildes" gesprochen werden kann.

Wenn das "Bild" nicht mehr nach dem Vorbild analoger medientechnischer Aufzeichnung gedacht, sondern als Produkt digitaler Operationen realisiert wird, finden Unterscheidungen wie die zwischen Subjekt und Objekt, Ding und Repräsentation ihre bekannten Haltepunkte nicht mehr und geraten in eine neue Bewegung. Die technischen Möglichkeiten neuer computergenerierter Visualisierungen stellen sich als eine variable, reagierende, visuelle und taktile Raumstruktur dar, die den Benutzer im Sinne eines Datenproduzenten miteinschließt.

Insbesondere in Umgebungen virtueller Realität wird dies Konzept konkretisiert und anschaulich. Denken Sie nur einmal an den Anblick, der sich Ihnen bei der Beobachtung einer Person bietet, die, ausgestattet mit einem Head-Mounted Display und einem Data-Suit, Ihnen als einem externen Beobachter nichts als eine Reihe unverständlicher Gesten und Bewegungen bietet: eine Figur, die sich als Teil des computererzeugten Bildraumes in einer vollständig anderen Art von "Bild" bewegt.

Eine neue technische Realisierung eines "Bildraums" überspringt hier die Grenze zwischen "Mensch" und "Bild" - in der Vorstellung eines qualitativ unterschiedslosen, je gleich gültigen Kontinuums von "Information". (Vergleiche Abbildung 3.1 und 3.2)

Abb. 3.1 Abb. 3.2
Abbildung 3.1 Abbildung 3.2

Wenn so ein "Verschwinden des Bildes" behauptet wird, dann ist ebenso ein "Verschwinden des Menschen" angezeigt, und zwar des "Menschen", wie er bisher im Medium analoger Abbildungstechniken als Subjekt der Wahrnehmung zu denken versucht wurde. Nicht unterscheidbar von einer Datenstruktur hat sich das Subjekt der Wahrnehmung in den Definitionsraum der technischen Parameter von Speicherung, Bearbeitung und Übertragung begeben: sich selbst als eine potentiell variable Visualisierung projizierend, z. B. seiner genetischen Information.
Wenn  P I X E L  versucht, eine Weise zu finden, ein derartiges Verschwinden des Bildes zu beobachten, indem weiterhin die neuen Bildlichkeiten materialiter untersucht werden, so ist es notwendig, sehr nahe an diese "Bilder" heranzugehen, eine Großaufnahme der "kleinsten Elemente" von etwas Verschwindendem zu wagen - dem "Bild".

 

Groß auf P I X E L>>
 
Winzig wie photographisches Korn, Raster oder Punkte tendieren  P I X E L  dazu, sich der Wahrnehmung zu entziehen, scheinen gar mit bloßem Auge kaum zu bemerken zu sein. Störend in Erscheinung traten sie noch deutlich bei älteren Computergraphikprogrammen als sogenannnte Treppen- oder Sägezahnstruktur. Um es deutlich zu sagen:  P I X E L  werden, falls sie in den Blick geraten, allgemein als Problem angesehen.  P I X E L  stellen nämlich eine sichtbare Erinnerung an die Differenz zwischen Repräsentation und Repräsentiertem vor Augen, ebenso wie zwischen dem "Bild" auf dem Computermonitor und seiner technologischen Struktur.

In der Vorstellung eines Kontinuums der "Information" ist es die Sichtbarkeit der  P I X E L , die den imaginierten bruchlosen Übergang der Welten diesseits und jenseits der Computerdisplays stört. Um solchen Anblick der  P I X E L  zu verhindern, ist es gängige Praxis, ihre Anzahl noch zu erhöhen, sie also nur scheinbar zum Verschwinden zu bringen.

Denn jenseits der Leistungsgrenze menschlicher Sehphysiologie entziehen sich P I X E L dem Blick. Wenn Sie einmal mit den Augen sehr nahe an Ihren aktiven Computerbildschirm herangehen, können Sie Ihre persönliche Entfernung bestimmen, die Ihnen genau die Grenze zwischen Sichtbarem und Nicht- Sichtbarem erscheinen läßt. Bei der Bestimmung dieser Entfernung können Sie sich selbst noch einmal praktisch als das historische Subjekt der Wahrnehmung erkennen. So wird es möglich sein, exakt den Punkt zu bestimmen, an dem die visuelle Halluzination beginnt, wenn die Unterschiede zwischen den einzelnen Bild-Elementen zu verschwinden beginnen, um eine einheitliche Figur zu formen, mit den ihr eigenen "realistischen" Effekten. Bitte beachten Sie diesen Punkt, wenn Sie Ihrem Wunsch, etwas Bestimmtes wiederzuerkennen, nahekommen. (Vergleiche Abbildung 4.1 und 4.2)

Abb. 4.1  Abb. 4.2 
Abbildung 4.1 Abbildung 4.2

Lassen Sie uns jetzt einmal einen besonderen Fall annehmen. Ihre Augen ruhen weiterhin konzentriert und dicht auf den bewegten, wechselnden "Bildern" des Computerbildschirms. Eine Visualisierung eines telepräsentisch ausgeführten medizinischen Eingriffs wird auf Ihren Schirm übertragen. Sie wissen, daß eine robotische Einrichtung eine Teleoperation an einem Patienten ausführen soll, an der Sie in Real-Time nicht nur als Beobachter teilnehmen können, sondern durch ein Trackingsystem angeschlossen sind. Das heißt, die räumlichen Positionen und Bewegungen, die Sie mit Ihren Eingabegeräten, beispielsweise einem Datenhandschuh ausführen, werden gemessen und in den Rechner übertragen. Als einer von mehreren angeschlossenen Fachärzten werden Sie aufgefordert, einen Abschnitt der Operation durchzuführen. Es sollen entsprechend Ihren Gesten von einem Operationsroboter die operativen Schnitte am Patienten ausgeführt werden. Sie sehen, es ist Ihnen möglich, das "Bild", beispielsweise eines Tumors, zu verändern, indem Sie Ihre Hände bewegen. Sicher ist: Sie können Veränderungen der farbigen  P I X E L  dicht vor Ihren Augen sehen. Aber können Sie sehen, was Sie bzw. die angeschlossenen robotischen Ausgabegeräte am räumlich entfernten Patienten tun? Sind dies Ihre Steuergesten, die Operationswerkzeuge führen oder sind dies variable P I X E L in verschiedenen Zuständen?

Der Anspruch telepräsentischer Anwendungen besteht in einer direkten Übersetzung eines virtuellen Bildraums in den konkreten physikalischen Raum. Im medizinischen Beispiel entschiede eine solche technische Deutung des aufgelösten "Bildes" einer Datenstruktur "Mensch" in effigie potentiell über Leben und Tod des Patienten.

Das "Verschwinden des Bildes" auf dem Feld der telepräsentischen Medizin stellt sich als Überbietung der Abbildungsfunktion einer außerbildlichen Faktizität dar: nämlich als deren ferngesteuerte "Verwirklichung". So soll hier das telepräsentische Ende des "Bildes" durch seine "Verwirklichung" exekutiert werden.

Die Erwartung einer Dokumentationsfunktion dieser Bildlichkeit besteht jedoch weiter, als handle es sich etwa um eine Filmaufnahme. Jedoch stellen Eingriff, visuelle Kontrolle von ausgeführten Befehlen und Bildaufzeichnung bei Telepräsenzsystemen einem einzigen Vorgang dar. Ist das "live", wie es die CNN Nachrichten vom Golfkrieg waren? In diesem Beispiel wären Sie der Reporter, die Kamera, die Bombe und der Pilot gewesen. Aber an erster Stelle wären Sie ein Betrachter von "Bildern" gewesen. Vielleicht können Sie auch das sehen, wenn Sie, wie vorgeschlagen, die bildproduzierende Technologie aus extremer Nähe auf sich wirken lassen: indem Sie versuchen, die  P I X E L  zu sehen?

Die Frage ist, wie die neuen Simulationstechnologien in die bisherige Struktur sprachlicher und bildlicher Repräsentation selbst eingreifen, indem neue Verhältnisse zwischen Wort, Vorstellung und Bild technisch realisiert werden. Bildet eine neue Kategorie interaktiv reagierender "intelligenter Bilder" den Ausgangspunkt einer grundlegenden symbolischen Verschiebung?

Es stellt sich hier das Problem, daß "intelligente Bildlichkeit" als Grenzfall von Sprache und Handeln, Analyse und Erfindung, Realität und Simulation eine neue Kategorie der Text- und Bild-Diskurse einführt. Die möglichen Interfaces der virtuellen Bildmanipulationen mit telerobotischen Ausgabegeräten fordern auf, die technische Möglichkeit eines sich wandelnden Verhältnisses von Fiktionalität und Faktizität, Abbildung und Wirklichkeit zu denken.

Was würde eigentlich geschehen, wenn selbst die einzelnen  P I X E L  , erkennbare Reste der physiologischen Täuschung und heimliche Ikonen des neuen virtuellen Bildraums, nicht mehr zum Erscheinen und Verschwinden zu bringen wären? Was wäre, wenn unser Experiment, das allein die durchschnittliche Distanz der Augen zu einesm Computerdisplay veränderte, sich bei zukünftigen Ausgabegeräten bereits als obsolet erwiese?

 

Das "Virtual Retinal Display" >>
 
Anhand eines aktuellen Beispiels für einen neuen Typ bildgebender Geräte, das auf der Messe "Virtual Reality World '95" in Stuttgart erstmals zum allgemeinen Gebrauch vorgestellt wurde, kann versucht werden, zukünftige Entwicklungen der  P I X E L  vorauszusehen. Entwickelt wurde das bildgebende System vom "Human Interface Technology Laboratory" der Universität Washington, Seattle. Das "Virtual Retinal Display" ist als verblüffende Alternative zu den bisherigen bildlichen Ausgabegeräten der Virtuellen Realität entworfen, den kleinen LCD- oder CRT-Schirmen, die in die schwerfälligen Head-Mounted Displays integriert sind. Beim "Virtual Retinal Display" dagegen stimuliert ein stereoskopischer Laser- Mikroscanner direkt die Lichtrezeptorzellen im menschlichen Auge und produziert die "Bilder" physikalisch im Augeninnenraum - auf der Retina. Modulierte Laser- Strahlen scannen die errechneten "Bilder" P I X E L für  P I X E L  mit einer entsprechend hohen Rate, synchron mit den Bewegungen der Augäpfel und in Echtzeit direkt auf die Netzhaut.

Kann ein zukünftiges "Virtual Retinal Display" tatsächlich "Wirklichkeiten direkt auf die Netzhaut malen" ("paint realities directly on the retina"), wie Thomas A. Furness uns versichert?(4) In jedem Fall handelte es sich dann um eine neue Art von Malerei.

Der Wunsch, die Grenzen des klassischen Gemäldes zu erweitern, es gleichsam zum Leben zu erwecken, setzt eine Tradition fort, wie sie bereits im 18. Jahrhundert als theatralische Kunstform und Unterhaltung gebildeter Stände entwickelt wurde, als lebende Personen die Kompositionen von Gemälden und Skulpturen nachstellten, als "Tableaux vivants". Solange bis dann diese Funktion von den neuen bildgebenden Techniken Photographie und Film übernommen werden sollte.

Aber immer noch braucht jedes Bild, ob es sich nun um ein Gemälde, ein "Tableau vivant", ein Photo oder eine filmische Einstellung handelt, jemanden, nämlich Sie, den Betrachter. Im Fall des "Virtual Retinal Displays" müßte ein solcher Betrachter allerdings sehr klein sein, um in den Augapfel hineinzupassen. Denn dort wäre der einzige Ort, von wo aus die Laser-Projektionen auf die Netzhaut wie eine Art von "Malerei" betrachtet werden könnten. Wahrscheinlich würden Sie sich auch von diesem Ort aus eher an einen Besuch im Kino erinnern.

Oder wird von dem winzigen Kinobesucher eher erwartet, sich auf der anderen Seite der Retina zu plazieren und direkt im Gehirn Platz zu nehmen? Im visuellen Cortex oder anderen Teilen des Gehirns? Allerdings konnte ein derartiger Platz des menschlichen Bewußtseins im Gehirn bisher nicht ausgemacht werden, und nicht nur die "linguistische Wende" in der Psychoanalyse lehrt, daß ein solcher auch unmöglich zu finden sein wird, wenn nach dem Ich gesucht wird wie nach einem Bild.

So ist die Frage immer noch aktuell, wer es ist, der die so genannten "Wirklichkeiten auf der Netzhaut" denn anschaut. Wie können wir uns selbst vorstellen jenseits einer Identifikation mit dem Spiegelbild, das dazu nötigt, die "Wirklichkeit" unserer selbst immer wieder im Bild einer einheitlichen Gestalt zu denken? (Vergleiche Abbildung 5.1 und 5.2)

Abb. 5.1 Abb. 5.2
Abbildung 5.1 Abbildung 5.2

Vielleicht wäre es den Versuch wert, eine paradoxale Identifikation mit der Grenzlinie zwischen Sichtbarkeit und sich entziehender Sichtbarkeit zuzulasssen. Bitte denken Sie zurück an den spezifischen Punkt, an dem Ihrem Blick  P I X E L  sichtbar wurden und auch wieder verschwanden, an das spürbare Pulsieren des Sichtbaren.
Aber die  P I X E L  des "Virtual Retinal Displays" haben keine Distanz mehr zur Netzhaut und könnten in weiterentwickelten Modellen sich dem sichtbaren Feld gänzlich entziehen, also unsichtbar werden wie die Informationen, die die Bildgebung bestimmen, oder unsichtbar wie die Neuronen der Retina beim Sehvorgang. Dann könnte die perfektionierte Erfindung als "Retinal Picture Implant" bezeichnet werden, das nicht nur das "Bild" zum Verschwinden brächte, sondern das Sehen selbst. Blindheit ist das Ziel des "Virtual Retinal Displays", die Blindheit der Träume, wenn Sie ohne Ihre Augen sehen können. Die äußerste Sicht in der Vision des Virtual Retinal Display wäre eine, die keine Augen mehr benötigt, sondern die "Bilder" neurologisch im Gehirn auszulösen in der Lage ist.

 

Der Glaube an das "Bild" >>
 
Jenseits der  P I X E L  bleibt ein Bereich des Glaubens an die "Bilder" bestehen. Dieser Glaube ist bekannt als Glaube an die bildliche Repräsentation auf der Basis sichtbarer Ähnlichkeit mit dem Abgebildeten. Die neuen Möglichkeiten computererzeugter "Bilder" unterstützen diesen Glauben, selbst wenn die Ähnlichkeit nur eine beliebig zugefügte ist. Spuren dieses Glaubens finden sich ebenso in populären wie in wissenschaftlichen Texten. Abzulesen ist an diesen Spuren ein Gemeinsames: ein Faszinosum, das von den neuen computererzeugten "Bildern" ausgeht. Die Attraktion der Vorstellungen eines "Informationszeitalters" im Zeichen universeller Programmierbarkeit speist sich, so die These, wesentlich aus dieser Faszination.

Denn wenn "Infospeicher des Lebens", "Algorithmen des Bewußtseins", "Geheimcodes des Lebens" in Genforschung, Gehirnforschung und Artificial Life-Forschung "geknackt" werden sollen, geht es stets um "Information", und doch scheint diese "Information", um gedacht zu werden, essentiell der "Bilder" zu bedürfen, und zwar genauer des "Glaubens an das Bild".

Die beliebige Erscheinung einer Visualisierung würde gleichsam mit einem "wahren" Bild einer Informationsstruktur verwechselt. Der Versuch, eine computererzeugte Visualisierung wie ein neuartiges photographisches Dokument zu lesen, entsteht aus dem Glauben, daß dieses neuartige Computer- "Bild" nicht nur eine äußere Ähnlichkeit wiedergeben würde, sondern eine "innere" mathematische Struktur erfassen könnte, aus der heraus dann auch die äußere Gestalt mathematisch folgerichtig entwickelt wäre. Dieser Wunsch nach einer Abbildung in gesteigerter, wahrer Form "glaubte" nun fasziniert gerade an ein neues "Bild", das jedoch eine Computervisualisierung ebensowenig wie eine Photographie darstellt: an eine abbildliche Identität. (Vergleiche Abbildung 6.1 und 6.2)

Abb. 6.1 Abb. 6.2
Abbildung 6.1 Abbildung 6.2

 

Lebende Bilder?>>
 
Die spektakulärste Form der Verwirklichung der Bilder besteht in der aktuellen Behauptung eines "Lebens" der Datenvisualisierungen. Nicht nur Programmen der Artificial Life-Forschung wird dies Leben zugesprochen, sondern Medientheoretiker wie Peter Weibel bezeichnen jede interaktiv reagierende Computerbildlichkeit, jedes "intelligente Bild" im medizinischen Bereich genauso wie in der Unterhaltungselektronik als "lebend" bzw. als "belebtes Bild".(5) Eine Vielzahl von Interpretationen dieses "Lebens" der computererzeugten Bildlichkeiten ist angespielt. Die stärkste Interpretation, wie die Artificial Life-Forschung sie vertritt, geht von "lebenden" Computerprogrammen als Produzenten der "belebten Bilder" aus. Eine historische Interpretation wird demgegenüber die sogenannten "lebenden Bilder" vom Beginn des Jahrhunderts, wie der Film einst genannt wurde, vergleichend heranziehen. Denn die frühen kinematographischen Erfindungen, bekannt als "Bioskop", "Biographe" oder "Lebendes Bild" "lebten" einst genauso wie die Datenvisualisierungen heute. Diese "lebenden" Photographien hatten ein grundsätzliches technisches und epistemologisches Thema: Die Geschwindigkeit unseres visuellen Systems zu überschreiten, indem eine visuelle Halluzination mit einer Geschwindigkeit von 16 Bildern pro Sekunde mechanisch ausgelöst wurde. "Leben" verdankte sich auf diese Weise einer Illusion, die immer noch die technische Basis heutiger Fernseh- und Computerschirme darstellt. Nur daß die Bildfrequenzen sich seitdem verändert haben.

Das kleinste Element der kinematographischen Bildillusion liegt in einem Dazwischen, zwischen den Bildern auf dem Filmstreifen, deren benachbarte fast das gleiche Bild zeigen. Nichts ist in diesem Dazwischen zu sehen als eine kleine Linie. Schließlich wird das Geheimnis der "lebenden" kinematographischen Bilder ebensowenig wie das Geheimnis des Lebens nicht im Bild selbst abgebildet sein.

Und wie sieht es aus mit den  P I X E L  in computererzeugten Visualisierungen? Könnten sie "lebendig" sein wie die zellulären Automaten der Artificial Life-Forschung? Könnte es eine Aufzeichnung sichtbaren "Lebens" geben, die selbst "lebendig" wäre, wie es die Faszination unterstellt? Diese Frage scheint im Blickwinkel der Betrachtung zu changieren. Wenn das kinematographische Bild wirklich als ein "lebendes" angesehen wird, dann lebten  P I X E L  gewiß in der gleichen Existenzform. Denn selbst wenn Sie Ihre Augen sehr dicht an den Bildschirm annähern, um die kleinsten Elemente des Bildes zu sehen, werden Sie ein  P I X E L  nur während eines Bruchteils Ihrer Betrachtungszeit vor Augen haben. Denn ein meßbares Erscheinen und Verschwinden zeichnet die  P I X E L  aus, die auf einem Bildschirm betrachtet werden können, entsprechend der Bildfrequenz des Geräts. Immerhin könnte dies als der physiologische und technische Beweis dienen, daß "Wirklichkeit" weder mit "Sichtbarkeit" noch mit "Information" zu verwechseln sei, jedoch viel mit medientechnisch induzierten Täuschungen zu tun habe.

 

Das "Virtual Scientific Display" >>
 
Erinnern Sie sich, daß vom "Virtual Retinal Display" erwartet wurde, daß es "Wirklichkeiten direkt auf die Netzhaut malte"? Selbstverständlich müssen diese "Wirklichkeiten" die P I X E L gewesen sein, die gemeint waren. Aber sind  P I X E L  weiterhin als sichtbare winzige Unregelmäßigkeiten vorzustellen? Oder sind wir nur fähig, bei der Betrachtung der  P I X E L  Zeichen von etwas Erscheinendem und Verschwindendem wahrzunehmen?

Die grundlegende Frage muß lauten: Sind  P I X E L  dem Bereich des Sichtbaren oder des Nicht-Sichtbaren zuzuordnen? Zumindest, folgen wir weiter der Definition aus dem Wörterbuch, könnte  P I X E L  der Name für Bildelemente sein, die selbst nicht sichtbar im Bild erscheinen. Was das "Virtual Retinal Display" angeht, so stimuliert dieses neue Sichtgerät die lichtempfindlichen Zellen der Netzhaut  P I X E L  für  P I X E L  (entsprechend der codierten Bildinformation), um eine bildliche Wahrnehmung auszulösen. Ein paradoxaler Zustand der  P I X E L  muß hier festgestellt werden. Die  P I X E L  erscheinen definitiv weder als sichtbar noch als nicht sichtbar. Unter dieser Perspektive kann das "Virtual Retinal Display" helfen, eine Kategorie von Elementen vorstellbar und analysierbar zu machen: zwischen Sichtbarem und Nicht-Sichtbarem. Dies ist nichts anderes als die Kategorie der unsichtbaren Elemente des Bildes. Diese unsichtbaren Elemente müssen nun dieselben sein, bezüglich des Bildes wie der Wahrnehmung: "außen" ebenso wie "innen", jenseits bildlicher Wahrnehmung und diese strukturierend. Strenggenommen vermittelt das "Virtual Retinal Display" unsichtbare Bilder, die jedoch als bildliche Wahrnehmungen erscheinen. Wie im Traum.

Wenn also Jacques Lacan schreibt "das Unbewußte ist das, was wir sagen, ..."(6), benennt er diese unsichtbaren Elemente. (7) Als Signifikanten. (Vergleiche Abbildung 7.1 und 7.2)

Abb. 7.1 Abb. 7.2
Abbildung 7.1 Abbildung 7.2

Die Ähnlichkeit von bildlicher Wahrnehmung im Traum und dem "Virtual Retinal Display", ebenso wie die von Unbewußtem und Sprache kann nun einen Hinweis geben, wie wir uns "selbst" vorstellen könnten, jenseits einer Identifikation mit dieser winzigen Person in unserem Kopf, die ausdauernd versucht, die "Wirklichkeiten auf unserer Netzhaut" zu sehen. Wenn P I X E L nun nicht länger in der Identifikation von Bild und Information gedacht werden, können sie eine Differenz markieren, die auch das Subjekt der Wahrnehmung trifft: das Unsichtbare als Element des Bildlichen -  P I X E L .




Anmerkungen >>

ad 1) Die Schreibweise P I X E L markiert im Folgenden sowohl "Pixel" im technischen Sinn, nämlich eines oder mehrere Elemente des digitalen Bildes, wie sie in der Bearbeitung dieses Aufsatzes erscheinen, als auch den Titel des Aufsatzes selbst. >>

ad 2)  P I X E L  steht in Zusammenhang mit Forschungen zum Winzigen, die von Prof. Dr. Marianne Schuller initiiert wurden. >>

ad 3) "pixel - the smallest elements of an image that can be individually processed in a video display system", in: Random House Webster's College Dictionary, New York 1991. >>

ad 4) Das Zitat von Thomas A. Furness III wird von Howard Rheingold mitgeteilt, in: Virtual Reality, New York 1991, S. 194. >>

ad 5) Peter Weibel, Postontologische Kunst - Zur Konstruktion kontextkontrollierter Ereigniswelten, in: Interface 2 (Hg. Dencker, K. P.), Hamburg 1993, S. 21. >>

 

ad 6) Jacques Lacan, Die Stellung des Unbewußten, in: Schriften II, Hg. Norbert Haas, Weinheim 1986, S. 208. >>

ad 7)Zur Erläuterung dieser verdichteteten Montage sei ein weiterer Passus aus Jacques Lacan, Die Stellung des Unbewußten eingefügt: "Das Register des Signifikanten entsteht dadurch, daß ein Signifikant ein Subjekt für einen anderen Signifikanten repräsentiert. Dies ist die Struktur - Traum, Lapsus, Witz - sämtlicher Gebilde des Unbewußten. Es ist auch die Struktur, die die ursprüngliche Teilung des Subjekts erklärt.", a.a.O., S. 219. >>

Eine englische Fassung dieses Artikels wurde 1995 bereits unter dem Titel " P I X E L  - Experiences with the Elements" als Paper bei der Konferenz "Medicine Meets Virtual Reality IV", San Diego angenommen.

Publiziert in: Rundbrief 48
Frauen in der Literaturwissenschaft
Science & Fiction, Hamburg 1996